Wie Frauen sich organisieren

Übernommen von Yeni Hayat – Neues Leben:

Rund um den 8. März haben wir eine Veranstaltungsreihe unter dem Motto: #8M24-Frauen, Frieden, Solidarität durchgeführt. Dabei haben wir uns mit zwölf Expertinnen über unterschiedliche Felder des Frauenkampfs ausgetauscht. In unserem vierten Themenblock der Sendereihe haben wir drei Frauen-Selbstorganisationen näher kennengelernt und darüber gesprochen, wie Frauen sich organisieren. Unsere Interviewpartnerinnen waren: Anna Leder, Mitinitiatorin der IG24- Interessensgemeinschaft der 24H-Betreuer*innen in Österreich. Florina Platzer, Juristin, rechtliche und psychosoziale Beraterin bei „maiz“- Autonomes Zentrum von und für Migrantinnen. Sowie Ceyda Tutan, Sozialpädagogin und Vorsitzende des Bundesverbands der Migrantinnen in Deutschland e.V.

Zeynem Arslan

Anna, wer sind die 24 Stunden Betreuerinnen?

Anna Leder: 24 Stunden Betreuerinnen, sind zu 90 Prozent weibliche Betreuungskräfte mit Migrationsbiographien, die als Pendlermigrant*innen nach Österreich kommen. Es sind Laienbetreuerinnen, die einen Turnus von zwei bis vier Wochen absolvieren, um in privaten Haushalten pflegebedürftige oder betreuungsbedürftige Personen zu versorgen. In Österreich sind gegenwärtig 60.000 Personenbetreuer*innen tätig. Die 24 Stunden Betreuung ist das zweite System, das das Pflegesystem stützt, wenn sich Familien gegen Pflegeinstitutionen entscheiden. Oft sind es schwer-pflegebedürftige Menschen, die 24 Stunden Betreuung benötigen.

Diese Branche gibt es seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, wo ziemlich schnell ein riesiges Arbeitskräftereservoir zur Verfügung gestanden ist. Die Grenzen waren offen und die Arbeitslosigkeit in den osteuropäischen Staaten, wie z.B. Rumänien, Slowakei, Bulgarien, Ungarn etc. war enorm. In den 1990er Jahren handelte es sich noch um ein ungeregeltes Gewerbe und Österreich ist ein Land, in dem diese Tätigkeit gesetzlich ziemlich genau geregelt worden ist.

2007 gab es dazu eine Anlassgesetzgebung. Es wurde ein Personenbetreuungsgesetz verabschiedet, das aber ein unglaublich schwammiges Gesetz ist. Schwammig ist es deswegen, weil es eine Gleichberechtigung zwischen den Agenturen, die diese Personen nach Österreich vermitteln, zwischen den Familien, wo die Betreuerinnen arbeiten und den Betreuerinnen selbst definiert. In der Realität handelt es sich jedoch um eine umfassende Abhängigkeit von den Agenturen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen. Es gibt über 900 Agenturen in Österreich, die durchwegs privat und gewinnorientiert sind und mit dem freien Gewerbe arbeiten. Die Betreuerinnen arbeiten fast zur Gänze selbstständig als Ein-Personen-Unternehmerinnen.

Was sind Probleme, denen 24 Stunden Pflegerinnen ausgesetzt sind?

Anna Leder: Die Probleme ergeben sich aus der Situation, der Migration, der oft schlechten Deutschkenntnisse, des fehlenden Lebensmittelpunkts in Österreich und der enormen Schutzlosigkeit. Jede Arbeit, die in einem privaten Haushalt stattfindet, ist wenig transparent. Diese Form von Arbeit haben wenig Öffentlichkeit und erfahren wenig Kontrolle. Es handelt sich um Laienpflegerinnen, die es aber mit schwerpflegebedürftigen Personen zu tun haben. Im Arbeitsalltag ist es schwer abgrenzbar, was Pflege und was Betreuung ist. Die klaren Regelungen, die es im institutionellen Rahmen einer Klinik oder einer Pflegeeinrichtung gibt, gibt es im privaten Haushalt nicht. Die Betreuerinnen sind oft überfordert und haben kein professionelles Gegenüber, mit dem sie die Arbeit verhandeln können. Was die gesetzlich definierte Arbeit ist und welche Erwartungen aber tagtäglich eintreten, ist oft ein schwer verhandelbares Problem.

Wir haben es mit einer Scheinselbstständigkeit der Betreuerinnen zu tun, wo keine Arbeitsgesetze gelten. Laut Hausbetreuungsgesetz müssen die Betreuerinnen 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, einige Wochen lang am Stück zur Verfügung stehen, was ein unhaltbarer Zustand ist, der seit bereits einigen Jahrzehnten anhält.

Wer oder was ist die Interessensgemeinschaft für 24 Stunden Betreuer:innen?

Anna Leder: Dadurch, dass die Betreuungskräfte selbstständig arbeiten, haben sie keine Interessensvertretung, die für sie da ist. Die Frauen sind von Anfang an in irgendeiner Form, immer zunächst entlang ihrer Communities in den Austausch gekommen. Sie diskutierten also z.B. darüber, welcher Arbeitsplatz gut ist, wo aufgepasst werden muss, welche Agenturen besser sind etc. Mittlerweile passiert ganz viel Austausch über Social Media Kanäle. Die Betreuerinnen organisieren sich und knüpfen Kontakte mit Aktivistinnen, wodurch sie u.a. in Fragen der sogenannten „indexierten Familienbeihilfe“, die in erster Linie Frauen mit Migrationsbiographien betrafen, erste Erfolge erzielen konnten. Insbesondere während der Pandemie sind die Probleme durch die Decke gegangen. 2020 haben wir unseren Verein „Interessensgemeinschaft der 24 Stunden Betreuer:innen, IG24“ gegründet, welcher somit als Dach dieser selbstorganisierten Communities zu verstehen ist. Die IG24 ist eine Vereinigung der Aktivistinnen und Betreuerinnen, in dem viel Zusammenarbeit, v.a. Beratung passiert, lediglich ehrenamtlich. Wir erhalten Spenden und reichen Projekte ein. Außerdem gewannen wir zuletzt den „Ute Bock Preis“ (Anm. Ute Bock, 1942-2018; war österreichische Erzieherin, Flüchtlingshelferin und Menschenrechtsaktivistin). Wir begleiten Gerichtsprozesse, wofür wir eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen haben.

Was können wir uns unter den Konsequenzen mangelnder Institutionalisierung in der 24 Stunden Betreuung vorstellen?

Anna Leder: Die 24 Stunden Betreuerinnen arbeiten sehr prekär und es gibt keine Unterstützung vonseiten der Sozialpartner. Die IG24 ist eine Selbstorganisation, die die Frauen überall dort unterstützt, wo sich die Gewerkschaften, Arbeiterkammer und alle anderen Sozialpartner nicht zuständig wissen. Die 24 Stunden Betreuerinnen sind als Einzelpersonenunternehmerinnen verpflichtend in der österreichischen Wirtschaftskammer organisiert und sitzen damit mit ihren quasi Dienstgeberinnen zusammen. Es geht um den grundsätzlichen Interessenskonflikt eines leistbaren Pflegesystems für die österreichische Bevölkerung auf der einen Seite und fairen Arbeitsbedingungen für die migrantischen Betreuungskräfte auf der anderen Seite.Die Betreuerinnen sind nicht geschützt und diverser Formen von Ausbeutung ausgesetzt, wo auch Rassismus eine große Rolle spielt. Wir stoßen strukturell sehr oft an unsere Grenzen. Ein weiteres großes Problemfeld ist Gewalt und sexualisierte Gewalt, der Frauen in privaten Haushalten ausgesetzt sind. Die Unsichtbarkeit, die Privatheit und die entsprechenden Arbeitsverhältnisse sind beständig da. Wir mussten feststellen, dass die Frauenschutzeinrichtungen, die es gibt, keinerlei Gültigkeit für diese Betreuerinnen haben, da als Pendlermigrantinnen deren Lebensmittelpunkte nicht in Österreich liegen. Sowohl die Gleichbehandlungsanwaltschaft, also auch andere Frauenorganisationen, sind, da es sich um nicht-österreichische Lebensmittelpunkte handelt, dafür nicht zuständig. Mit dieser Konstruktion „Pendlermigration“ sitzen sie zwischen allen Sesseln.

Florina, wer ist der Verein maiz und wer sind die Frauen, die hier andocken?

Florina Platzer: maiz ist ein autonomes Zentrum von und für Migrantinnen, ein unabhängiger Verein also, mit dem Ziel, Leben und Arbeitssituation von Migrantinnen in Österreich zu verbessern, ihre politische und kulturelle Praktik zu fördern, sowie eine Veränderung der bestehenden, ungerechten, diskriminierenden, rassistischen gesellschaftlichen Verhältnisse zu bewegen.

Der Verein maiz wurde vor 30 Jahren in Linz (Anm. Hauptstadt, Bundesland Oberösterreich, in Österreich) von drei Migrantinnen gegründet. Wir bieten Einzel- und Gruppenberatungen an und positionieren uns gesellschaftspolitisch für die Rechte von Migrantinnen. Wir sind bei Demonstrationen aktiv und stark aktivistisch unterwegs. Aktiv sind wir im Beratungsbereich sowie in Themenfeldern Bildung, Kultur, Forschung, Jugendbereich, Care Arbeit etc.

Was hat sich in der Schwerpunktsetzung in eurer Arbeit in den letzten 30 Jahren geändert?

Florina Platzer: Vor dreißig Jahren war es schwierig nach Europa zu kommen und jetzt ist es auch nicht einfach; im Gegenteil die Migrationspolitik ist viel strenger geworden. Damals hatte die österreichische Regierung beschlossen, dass Sex-Arbeiterinnen, hauptsächlich aus Südamerika, sechsmonatige Aufenthaltsvisa bekommen konnten. Die damaligen Mitbegründerinnen von maiz waren meistens weiße, privilegierte Akademikerinnen, die in diesen Papier- und Bürokratiearbeiten unterstützten. Irgendwann wurde der Bedarf nach Deutschkursen größer. Wir beraten und begleiten bei Fragen bzgl. Scheidung, häusliche und strukturelle Gewalt, Diskriminierung, Schulden, Arbeit und Arbeitssuche, Miete, Aufenthaltstitel etc. Und alle diese Probleme sind miteinander verwoben; Lebensbereiche kippen oft in einem Dominosteineffekt.

Ein wichtiger Punkt ist tatsächlich Fragen bzgl. Gewalt, die verschiedenen Formen, Dimensionen und Ebenen hat. Der Verein maiz versteht sich als queer-feministische Organisation und kümmert sich damit um Anliegen von Personen, die sich im nicht-binären Spektrum sehen und aufgrund ihrer Geschlechtsidentitäten Gewalt und Diskriminierung erfahren. Gewalt ist keine private Angelegenheit und hier oft auch institutionell verursacht.

Ceyda, wer sind die Frauen und Frauengruppen, die beim Bundesverband der Migrantinnen in Deutschland organisiert sind und was sind ihre Tätigkeitsfelder?

Ceyda Tutan: Der Bundesverband der Migrantinnen wurde 2005 von Frauen mit türkischem und kurdischem Migrationshintergrund gegründet. Dabei handelte es sich v.a. um politisch aktive und aktivistische Frauen, die eine wichtige Basisarbeit in Fragen der Mehrfachdiskriminierung leisteten. Wir sind in unterschiedlichen politischen Gremien und Netzwerken aktiv und sind bemüht Frauen zusammenzubringen und ihnen geschützte Räume für Zusammenarbeit und Empowerment zu bieten. Wir organisieren verschiedene kulturelle Angebote und greifen politische Themen auf, die wir bei Informationsveranstaltungen mit Beteiligung unterschiedlicher Referentinnen und Expertinnen diskursschaffend sichtbar machen. Wir laden Gewerkschafterinnen ein, um über die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen mit Migrationsbiographien zu reflektieren. Das Erstarken des Rechtsextremismus und traditionell-reaktionärer Frauenbilder haben mehrfache Benachteiligungen und Auswirkungen für Frauen mit Migrationsbiographie. Wir versuchen also auf diese Besonderheiten aufmerksam zu machen und antirassistische Solidarisierung und Vernetzung mit anderen Frauengruppen zu fördern. Dass wir im deutschen Frauenrat beteiligt sind, stärkt unser Bestreben unsere Forderungen und Anträge bis in den deutschen Bundestag zu kommunizieren. Wir sind in Fachausschüssen drinnen, so z.B. im Fachausschuss „Gewalt gegen Frauen stoppen!“, wo insbesondere Fragen der Aufenthaltserlaubnis bei Frauen mit Migrationsbiographie noch einmal eine Benachteiligung fördert. Wir betreiben viel Aufklärungsarbeit und suchen die Frauen darin zu stärken, sich dort, wo sie ihre Lebensmittelpunkte haben und arbeiten, für ihre Rechte einzusetzen. Frauen sollen also nicht nur über ihre Pflichten, sondern über ihre Rechte und Möglichkeiten Bescheid wissen. Organisierte Frauen wissen also: Gemeinsam sind wir stark! Der 8. März, der 1. Mai, der 25. November sind dann Momente, wo wir als Frauen in geeinter Solidarität noch einmal groß auf die Straße gehen und unsere Forderungen sichtbar kundtun.

Was macht es mit dem Berufsbild der Gesundheitsberufe, wenn diese nicht nur von Frauen, sondern auch immer mehr von Migrantinnen dominiert sind?

Anna Leder: Ich würde behaupten, dass die Gesundheitsberufe deswegen von Migrantinnen dominiert sind, weil der gesamte Carebereich entwertet sind. Wir spüren das ganz deutlich auch in den institutionalisierten Formen der Pflege, wo es auch hohe Anteile von Mitarbeiter*innen mit Migrationsbiographien gibt. Je niedriger die Qualifikation (Anm. in Österreich gibt es die einjährige, zweijährige und dreijährige Pflegeausbildung; seit Kurzem auch die Pflegelehre) ist, desto größer ist der Anteil an Migrant*innen. Hier sind die 24 Stunden Betreuerinnen mit Sicherheit jene, die am prekärsten situiert und am schlechtesten bezahlt sind, sowie die am wenigsten anerkannte Gruppe vertreten. Diese Gruppe arbeitet tatsächlich sehr nah an einem System, das an die Leibeigenschaft erinnert. Während es in den institutionalisierten Rahmen die Pflegekräfte sind, die angeben, wie und wann etc. gepflegt wird, ist in privaten Haushalten dieses System geradezu auf den Kopf gestellt. Das allgemeine Arbeitsgesetz gilt hier nicht und es gibt z.B. keine Pausen- oder Ruhezeitenregelungen, sowie keine Urlaubs- und Krankenstandregelungen. Nach 20 Jahren Arbeit bekommen diese Frauen ungefähr 200 Euro Pension; bei einem Stundenlohn von 3-4 Euro. Es findet insgesamt ein Prozess der De-qualifizierung statt. Die Solidarität zwischen den einzelnen Gruppen ist nicht annährend so groß. Eine immer kleiner werdende Schicht wird immer höher qualifiziert, während eine immer größer werdende Schicht – und das sind hauptsächlich Frauen mit Migrationsbiographien – in diesem Care-System zunehmend dequalifiziert wird. Das ist eine schiefe Ebene, die innerhalb des professionellen Care-Systems abläuft, die viel Konkurrenz untereinander begünstigt. Für die Anliegen der 24 Stunden Betreuerinnen bleibt da wohl am wenigsten übrig. Das ist eine massive Entsolidarisierung, insbesondere, wenn es heißt, dass die 24 Stunden Betreuerinnen eigentlich Laienpflegerinnen sind und gar nicht wissen würden, wie professionelle Pflegearbeit geht. Ich denke, dass da sehr viel Umdenken notwendig ist.

Die 24 Stunden Betreuerinnen sind hauptsächlich Frauen aus osteuropäischen Ländern. Diese Situation deckt sich z.B. nicht mit der bevölkerungsdemographischen Zusammensetzung in Österreich, die eine immer mehr alternde Schicht von Bevölkerungsgruppen haben wird, die z.B. türkeistämmig sind. Wie siehst du dieses Phänomen?

Anna Leder: Die 24 Stunden Betreuerinnen sind tatsächlich Frauen aus Rumänien, Slowakei etc. und die Arbeitsmigration, die die Mehrheit eben in Österreich bilden, spiegelt diese Herkünfte nicht wider. Das ist der eine Punkt und der andere Punkt ist, dass die 24 Stunden Betreuung vergleichsweise teuer und für viele Familien dennoch nicht leistbar ist, obwohl die Betreuungskräfte im Vergleich schlecht bezahlt werden. Am Ende des Tages ist es kein vertretbares System und funktioniert nur deswegen, weil die 24 Stunden Betreuerinnen überausgebeutet sind. Zur Finanzierung einer 24 Stunden Betreuung braucht es meist die gesamte Pension der pflegebedürftigen Person, hinzu kommt das Pflegegeld und die Familien müssen meist noch Geld zur Verfügung stellen, damit sich das finanzielle ausgeht. Wir haben es tendenziell mit einem Luxussegment zu tun, das sich typische Arbeiter*innenfamilien nicht leisten können und die 24 Stunden Betreuerinnen dennoch auf 3-4 Euro die Stunde kommen. Da passt einiges nicht zusammen.

Florina, wie siehst du die Situation von Menschen mit Migrationsbiographien am mittel-west-europäischen Arbeitsmarkt?

Florina Platzer: Österreich ist ein Migrationsland, diese Tatsache wird bis heute einerseits verleugnet, anderseits auch in rechten Diskursen für den eigenen Vorteil instrumentalisiert. Menschen mit Migrationshintergrund sind da, sie leben hier, arbeiten hier, zahlen Steuern und werden hier alt. Aufgrund ihrer Migrationsbiographie, die häufig mit Diskriminierungserfahrungen Hand in Hand geht, haben sie andere Bedürfnisse und das wird nicht wahrgenommen. Das Bild ist, dass jene Menschen, die Betreuung benötigen, lediglich die sogenannten, „autochton“ wahrgenommenen Österreicher*innen sind und jene Menschen, die betreuen sollen, also Betreuerinnen, Pflegerinnen etc. sind einfach die anderen, die Migrantinnen. Im institutionalisierten Gesundheitswesen sehen wir diese Ungleichheit ebenso. Es gibt eine große Diskrepanz im Umgang und der Wahrnehmung von Personen, deren Qualifikation in Österreich erworben wurde und jenen Personen, die ihre Ausbildung und Qualifikation außerhalb Österreichs erworben haben. Die Ausbildung der zweiten Gruppe wird häufig als den Standards nicht entsprechend eingestuft und abgewertet. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Gesundheitswesen ein hierarchisches, patriarchales System ist, in dem nicht nur die Belange der Geschlechtszugehörigkeit, sondern auch die Belange der Migrationsbiographien nicht ausreichend abgedeckt werden. Diese Dichotomien haben wir prinzipiell in allen Bereichen des Arbeitsmarkts.

Es ist wichtig, dass wir diesen Arbeitsmarkt genau benennen, denn das ist nicht irgendein Arbeitsmarkt. Das ist ein neoliberal-kapitalistischer Arbeitsmarkt, in den auch eine rassistische Struktur eingebettet ist. Spürbar wird immer mehr, dass es einen tendenziellen Verfall von rechtlichen Errungenschaften gibt. Alles, was früher als selbstverständlich galt oder gesetzlich verankert war, erodiert von Tag zu Tag. Dabei werden auch Menschen als Humankapital und Ressource am freien Markt gesehen, das ebenso ökonomisch verwertet werden soll. In dieser Kette sind es Menschen mit Migrationsbiographien, die mehrfachen Benachteiligungen ausgesetzt sind.

Können wir behaupten, dass Menschen mit Migrationsbiographien strukturell und systemisch in Jobs gedrängt werden, für die es bei den Arbeitnehmer*innen in den Mehrheitsgesellschaften keine Bereitschaft mehr gibt?

Florina Platzer: Es gibt einen Paradigmenwechsel; vor ein paar Jahren hieß es „die Migrant*innen nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg!“ Heute ist es umgekehrt; die Migrant*innen sollen in allen Arbeiten tätig sein, für die es sonst kaum Bereitschaft gibt. Die Migrant*innen werden also in schlecht bezahlte, prekäre, unsichere Jobs gedrängt. Dafür soll migrantische Arbeitskraft als Humankapital   regelrecht importiert werden. Politiker*innen und Funktionär*innen fliegen also auf die Philippinnen, nach Kolumbien usw., um aus diesen Ländern Menschen zu rekrutieren. Der kapitalistischen Logik folgend werden diese Menschen also lediglich als Ressource angesehen. Sie sollen die demographische Lösung für eine Pensionsabsicherung sein.

Gleichzeitig wird viel Rassismus geschürt und es heißt, „Migrant*innen sind Sozialschmarotzer*innen, missbrauchen unseren Sozialstaat, bekommen viele Kinder etc.“. Egal wie, es passt einfach nicht.

Es gibt unzählige Ausschlussmechanismen, die dafür sorgen, dass es Menschen gibt, die keinen Arbeitsmarktzugang haben und im jahrelangen Asylverfahren in einer Perspektivlosigkeit gelassen werden. Jene, die doch einen Arbeitsmarktzugang erhalten, erfahren Benachteiligung und Barrieren bei der Anerkennung ihrer formalen Ausbildungen und Qualifikationen, Kompetenzen und Fähigkeiten. Wenn es endlich mit der Anerkennung der Ausbildung klappt, reichen im nächsten Schritt die noch ausbaufähigen Deutsch-Sprachkenntnisse nicht aus. Viele Menschen weisen vielfältige Sprachkenntnisse auf, werden jedoch lediglich an ihren Deutschkenntnissen gemessen, bewertet. Mehrsprachigkeit wird nicht wertgeschätzt.

Die Menschen sollen alle funktionieren, am besten gleich ab dem ersten Tag, an dem sie in Österreich ankommen. Über den Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten, günstigere und gratis-Deutschkurse etc. wird zu wenig bis gar nicht geredet. In Wirklichkeit wird alles Mögliche dafür getan, um Menschen den Zugang zum regulären Arbeitsmarkt entweder zu verweigern oder sie in bestimmte Berufssparten zu drängen. Jene Bereiche, in denen Menschen mit Migrationsbiographien einen Job bekommen, sind jene, die prekär sind, schlechtere Arbeitsbedingungen aufweisen, zum Beispiel Hilfsarbeiter*innen-Jobs, Care-Arbeit, Gastronomie, Bau etc.

Ceyda, gibt es Unterschiede zwischen neu- und alt-Zugewanderten in Fragen der Benachteiligung am Arbeitsmarkt?

Ceyda Tutan: Es ist tatsächlich so, dass Frauen und Mädchen, die in Europa geboren und/oder aufgewachsen sind genau unter den gleichen Diskriminierungen am Arbeitsmarkt leiden, wie neu-Zugewanderte. Rassismen machen hierbei keinen Unterschied. Frauen mit Kopftuch werden z.B. nicht zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, denn ihre Bekleidung ist von vornhinein ein Ausschließungsgrund, wo die Deutsch-Sprachkenntnis auch nicht mehr weiterhilft.

Frauen, die durch Heirat und Familienzusammenführung nach Europa kommen, stehen bei der Anerkennung ihrer Kompetenzen und Qualifikationen mehreren Hürden gegenüber. Ihnen allen ist gemein, dass sie mit Ausschlusspraxen am Arbeitsmarkt und Nicht-Ermöglichung von Empowerment für eine längere Zeit in ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber ihren Ehepartnern und deren Familien gezwungen werden. Bei Neu-Zugewanderten braucht es überhaupt für eine unabhängige Aufenthaltserlaubnis zunächst einer dreijährigen Bindung an eine Lebensgemeinschaft in Deutschland, was die Situation dieser Gruppe im Vergleich noch einmal schlimmer macht. Und wenn sich diesen Konstellationen noch einmal eine Gewaltsituation hinzusetzt, haben wir es insgesamt – unabhängig von älterer und jüngere Migrationsgeschichte – mit Frauen und Frauengruppen zu tun, die systematisch und strukturell zunächst in ökonomische und dann in anderwertige komplexe Abhängigkeitssituationen eingezwängt werden.

Wie zeigt sich die strukturelle Stützung von Abhängigkeitsverhältnissen in Bezug auf den Aufenthaltsstatus von Frauen mit Migrationsbiographien?

Ceyda Tutan: Für viele Frauen und gerade jene, die in Abhängigkeitsverhältnissen verharren müssen, ist es eine unheimliche Hürde sich zu trauen, Hilfe zu holen, v.a. dann wenn eine an den Ehepartner gekoppelte Aufenthaltssituation mit im Spiel ist. Wenn dann noch Kinder vorhanden sind, werden die Situationen noch einmal komplizierter sich aus der Gewaltspirale, die sich dann über Jahre ziehen kann, zu befreien. Wir wissen, dass insbesondere in der Pandemie die Zahlen bzgl. Gewaltmeldungen in die Höhe geschossen sind und die Dunkelziffer weitaus höher liegt.

Dabei gilt auch für Deutschland die Istanbul-Konvention und in diesem Zusammenhang sollte Deutschland das Aufenthaltsgesetz neu reformieren. Derzeit ist es so, dass Frauen, die sich aus Gewaltbeziehungen lösen möchten, fürchten müssen, dass sie dadurch ihren an ihren Ehepartner gekoppelten Aufenthaltsstatus verlieren bzw. müssen sie beweisen, dass sie Gewalt erfahren und meistens ist es besonders schwierig diese Nachweise zu erbringen, denn Gewalt hat viele Gesichter und ist nicht nur physisch. Die bürokratischen Hürden sind viel zu groß und nicht niederschwellig.

STATEMENTS und FORDERUNGEN:

Ceyda Tutan: Wir fordern die Reformierung des Aufenthaltsgesetzes, damit es Frauen erleichtert wird, sich aus Gewalt- und Abhängigkeitsverhältnissen zu lösen. Gleichzeitig fordern wir, dass den Frauen niederschwelliger Zugänge bei Hilfs-, Unterstützungs- und Begleitmöglichkeiten gegen Gewalt geboten wird. Die Institutionen, Behörden, Berater*innen, bis hin zu Polizist*innen gehören in der Diversitätskompetenz in diesen Belangen dringend geschult. Es sind ganz viele Unsicherheiten und Ängste, die miteinander verwoben sind, wo es um Arbeitsmöglichkeiten, sichere Unterkunft, Absicherung der Kinder etc. geht. Das sind alles mitunter Themen, die wir in den Fachausschüssen thematisieren und einbringen.

Anna Leder: Unsere zentrale Forderung ist, dass es soziale Sicherungssysteme für die 24 Stunden Betreuerinnen gibt. Außerdem führen wir einen andauernden Kampf gegen diese Schein-Selbstständigkeit und setzen uns dafür ein, dass begriffen wird, dass die 24 Stunden Betreuerinnen keine Unternehmerinnen sind und es der Solidarität und Unterstützung durch die Sozialpartner braucht. Wir wissen, dass das ein langer Prozess ist und es dennoch dieser Abklärung auf rechtlicher Ebene braucht. Es braucht alternativer Anstellungsmodelle und ganz zentral fordern wir die öffentliche Kontrolle dieser Arbeitsverhältnisse. Es braucht viel mehr Unterstützung in Fragen der Gewaltbetroffenheit, erstsprachlicher Beratung und am Ende des Tages der Absicherung ganz existenzieller Dinge, wie z.B. in gesundheitlichen, aufenthaltsrechtlichen und weiteren Belangen.

Florina Platzer: Das mag utopisch klingen, aber wir fordern die Aufhebung dieser neoliberalen Migrationspolitik; wir fordern eine kritische Auseinandersetzung damit. Migrationspolitik ist eine zutiefst gewaltvolle Struktur, wir beobachten dies täglich, wir sehen, wie viele Menschen am Mittelmeer vor den Toren Europas ihre Leben lassen. Die Behauptung, dass Gewalt importiert wird, ist ein kulturalisierender, reaktionärer und v.a. rassistischer Zugang, von dem wir uns nicht verblenden lassen dürfen. Existenzsicherung und Recht auf gewaltfreies Leben sowie gleicher Zugang zu Rechten sollten unabhängig von Aufenthaltstitel gewährleistet sein. Grenzen und Rahmenbedingungen dürfen wir nicht als gegeben betrachten und erkennen, dass dies v.a. gesellschaftlich konstruierte Systeme sind und daher auch gesellschaftlich veränderbar sind. Ich persönlich wünsche mir eine (rassismus-)kritische, politische und transformative Gesellschaft, die widerständig und reflektiv ist.

Insgesamt bedarf es einer differenzierten Sicht, um komplexe Zusammenhänge erkennen und entsprechend agieren zu können.

Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben