Fessenheim: Schrottreaktor außer Kontrolle
Als harmlosen Zwischenfall im nichtnuklearen Bereich der Anlage spielten der Betreiberkonzern EdF und die französische Atomaufsichtsbehörde ASN im Frühjahr 2014 einen Wassereinbruch in der Nuklearzentrale Fessenheim gegenüber der Internationalen Atomenergieagentur IAEA und der Öffentlichkeit herunter. Jetzt deckten WDR und »Süddeutsche Zeitung« auf, daß es in dem für die Bewohner Luxemburgs besonders gefährlichen AKW zu einem der dramatischsten Reaktorunfälle in Westeuropa kam.
WDR und SZ berufen sich auf ein Schreiben der ASN an den Leiter des Kernkraftwerks wenige Tage nach dem Zwischenfall. Demnach seien die Steuerstäbe im Reaktorblock zeitweise nicht zu manövrieren gewesen. Daraufhin habe ein Krisenstab entschieden, den Reaktor durch Einleitung von Bor ins Kühlwasser notfallmäßig herunterzufahren.
Die Medien zitieren den deutschen Experten Manfred Mertins, demzufolge es eine vergleichbare Situation in Westeuropa bislang noch nicht gegeben hat. Mertins war Sachverständiger bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, die unter anderem im Auftrag der deutschen Regierung die Sicherheit von Atomkraftwerken beurteilt. »Es gibt eine Information, daß für etwa drei Minuten die Temperatur im Reaktorkern aus dem Ruder gelaufen ist. Das ist sicherlich darauf zurückzuführen, daß man keine Informationen mehr über die Regelung im Kern hatte.« Die Mannschaft habe den Reaktor währenddessen quasi blind gefahren, sagt der Experte.
Fessenheim im Elsaß ist das älteste Atomkraftwerk Frankreichs. Der sozialistische Präsident François Hollande hatte bei seinem Amtsantritt im Mai 2012 versprochen, die beiden 1977 ans Netz gegangenen Schrottreaktoren bis zum Ende seiner Amtszeit 2017 abzuschalten. Doch im Juni vergangenen Jahres teilte die ASN-Regionalchefin Sophie Letournel auf einmal mit, EdF habe noch immer keinen Beschluß über die Schließung der beiden 900-Megawatt-Reaktoren bei der Atomaufsichtsbehörde eingereicht, und angesichts der langwierigen Verwaltungsverfahren könnten bis zu einer Schließung »noch mindestens fünf Jahre« vergehen. Das würde bedeuten, daß Fessenheim bis zum Ende des Jahrzehnts laufen würde.
Dies, obwohl die französische Atomaufsicht nach dem Fukushima-GAU bestätigt hatte, daß die Betonplatte unter dem Reaktorbehälter von Block 1 in Fessenheim nur anderthalb Meter dick und damit die dünnste aller französischen Meiler ist. Bei einem Reaktorunfall mit Kernschmelze könnte die Platte bersten und den Rhein radioaktiv verseuchen.
Daß vor allem das AKW im Elsaß eine im Wortsinn existentielle Gefahr für Luxemburg darstellt, hatte Greenpeace 2012 in einer Studie aufgezeigt. Im Auftrag der Umweltschutzorganisation hatten die deutsche Diplom-Physikerin Oda Becker und ihre österreichische Kollegin Antonia Wenisch den zu erwartenden radioaktiven Niederschlag (vulgo: Fallout) simuliert, der bei einer Reaktorkatastrophe wie der im japanischen Fukushima zu erwarten ist. Für Luxemburg ergab sich ein Horrorszenario: Wegen der enormen Strahlenbelastung, die ein GAU in Fessenheim bedeuten würde, könnte niemand mehr dauerhaft im Großherzogtum leben. Luxemburg müßte vollständig evakuiert und zu einem »langfristig unbewohnbaren Gebiet« erklärt werden. Vor allem aber zeigt die nun aufgedeckte Vertuschungsaktion, daß wir es in Fessenheim mit einem Betreiberkonzern zu tun haben, der wie ein Hasardeur agiert, einer »Aufsichts«-Behörde, die beide Augen zudrückt, und einem Uraltmeiler, der aus dem letzten Loch pfeift.
Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek / RedGlobe