27. Dezember 2024

EU im Niemandsland

Gegen die Festung EuropaEs gibt eine ganze Reihe Länder, die man mit Fug und Recht als »gescheiterte Staaten« bezeichnen muß. Die wohl bekanntesten darunter sind »Staatsgründungen« nach einem von den kapitalistischen Hauptmächten, vor allem den USA angezettelten Krieg, also in erster Linie Afghanistan und der Irak. Man kann darüber diskutieren, ob auch die nach »bunten Revolutionen« entstandenen Regime zu den »gescheiterten Staaten« gehören – am Beispiel Ukraine ließe sich das wohl deutlich nachweisen. In diese Kategorie fallen zudem etliche Staaten auf dem afrikanischen Kontinent, wie zum Beispiel Somalia und Äthiopien, und auch der auf Betreiben des Westens neu geschaffene Staat Südsudan.

Libyen könnte man wohl als den »gescheitertsten« Staat ansehen, auch wenn das grammatikalisch unsinnig ist. Nach einem vom Westen befeuerten Aufstand von vorwiegend radikal-islamistischen Fanatikern, nach dem Eingreifen von Kriegsflugzeugen aus NATO-Staaten und reaktionären Golfmonarchien kam es 2011 zum Sturz des bis dahin zumindest im Interesse des Wohlergehens der Mehrheit des libyschen Volkes funktionierenden Staates und zum bestialischen Lynchmord am bisherigen Staatschef Muammar Gaddafi. Dies wurde von Hillary Clinton, der damaligen Außenministerin und späteren Präsidentschaftskandidatin der USA, unter lauten Lachen mit den Worten »Wir kamen, wir sahen, er starb« kommentiert.

Seit jenem Moment vor fast sechs Jahren versinkt das Land in einem politischen und wirtschaftlichen Chaos, und jeder Versuch der UNO, der EU oder der NATO, eine »Einheitsregierung« in Tripolis zu installieren, ist rundum gescheitert. Es gibt keine tatsächlich anerkannte Regierung, keine Behörden, keine staatlichen Strukturen, die auch nur den geringsten Ansprüchen gerecht werden. Libyen ist de facto ein Niemandsland. Und da erklären die Staats- und Regierungschefs der EU – und das ist keine Satire –, mit »den libyschen Behörden« zusammenarbeiten zu wollen!

Wenn es um sinnlosen Aktionismus geht, dann war diese EU mit ihren Führungsfiguren noch nie um eine Antwort verlegen. Seit über zwei Jahren werden die Herrschaften nicht müde, über die »Flüchtlingskrise« zu palavern. Unter der luxemburgischen Ratspräsidentschaft wurde sogar ein Plan für die Umverteilung von Flüchtlingen aus Griechenland und Italien in andere EU-Länder verkündet. Der war schon gescheitert, bevor er in alle EU-Sprachen übersetzt und veröffentlicht wurde.

Immer wieder geht die schöne Rede von »Bekämpfung der Fluchtursachen«. Daß die Ursachen der Massenflucht nicht aus einer Laune der Natur entstanden sind, sondern vornehmlich von den Mitgliedstaaten der EU und der NATO geschaffen wurden, darf um keinen Preis zugegeben werden. Liest man die sogenannten Beschlüsse des jüngsten Führungstreffens der EU auf Malta, dann sind vor allem »die Schleuser« schuld am Flüchtlingselend.

Es ist schlicht menschenverachtend, wenn die EU sich jetzt darauf konzentrieren will, die Fluchtroute zwischen Libyen und dem europäischen Kontinent dichtzumachen. Damit wird nicht nur keine einzige Fluchtursache beseitigt, sondern das Elend nur noch vergrößert. Viele der Elendsflüchtlinge aus Afrika werden in Libyen unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten, die mit den immer wieder beschworenen »Werten« der EU absolut unvereinbar sind. Vor allem aber sorgt diese Entscheidung dafür, daß in diesem Jahr noch mehr Menschen im Mittelmeer elendig ertrinken werden, denn die Routen, die dann genutzt werden, sind noch gefährlicher.

Uli Brockmeyer. Leitartikel der Dienstag-Ausgabe der Zeitung vum Letzebuerger Vollek

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