Jubelfeier für »Europa«
An diesem Samstag treffen sich in Rom wieder einmal die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union – diesmal sogar mit päpstlichem Segen, um allen in der Welt zu zeigen, wie christlich es zugeht in »Europa«. Anschließend will man den 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge feiern, also des Dokuments, das angeblich die Grundlage für die heutige Europäische Union legte.
Das ist pure Geschichtsfälschung, heutzutage auch »fake news« genannt. Denn die eigentliche Grundlage der heutigen EU war der 1951 zwischen Frankreich, Italien, Luxemburg, Belgien, den Niederlanden und Westdeutschland geschlossene Pakt zur Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch Montanunion genannt, bei dem es um die Aufteilung der Ausbeutung der Kohlevorkommen und die Sicherung der Stahlproduktion ging. Wenige Jahre nach dem verheerenden Krieg war das nicht nur nützlich für die wichtigsten westeuropäischen Konzerne, sondern auch für das Wiedererstarken des deutschen Imperialismus. Bereits hier wird der wichtigste Gedanke des engeren Zusammenwirkens der westeuropäischen Industriestaaten deutlich: Es ging um die Schaffung der günstigsten Bedingungen für die Erzielung größtmöglicher Profite.
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Anders als vor 66 Jahren werden dem Ganzen heute einige Sahnehäubchen aufgepappt, die das Projekt angenehmer aussehen lassen sollen. Inzwischen hat man zum Beispiel die Idee hinzugefügt, die EU sei ein »Friedensprojekt«, und die dafür losgetretene Propaganda hat sogar zur Verleihung eines Friedensnobelpreises geführt. Und die Chefs der EU werden nicht müde, ständig über den sozialen Charakter der EU zu palavern, obwohl so gut wie alle verfügbaren Daten – sofern sie nicht durch die EU-Strukturen den jeweiligen Notwendigkeiten angepaßt wurden – das genaue Gegenteil zeigen. Angeblich wurde der Euro eingeführt, damit »die Menschen« bei Reisen ins Euro-Ausland nicht mehr an der Grenze ihr Geld umtauschen müssen. Und der Vertrag von Schengen soll »den Menschen« das Warten an den Grenzen ersparen.
Lügen über Lügen. Der Euro dient in erster Linie der Freiheit des Waren- und Kapitalverkehrs, und mit Schengen ist es nicht anders. Wenn dabei auch eine Erleichterung für »die Menschen« herauskam, dann war das keineswegs Absicht, sondern eine Art Nebeneffekt.
Seit der Einverleibung der zuvor sozialistischen Staaten Ost- und Mitteleuropas spricht man gern vom »geeinten Europa«. Tatsächlich war damals den meisten Osteuropäern dieses »Europa« herzlich egal. Geködert wurden sie mit dem Versprechen von umfangreichen Geldflüssen und der Möglichkeit, »im Westen« arbeiten zu können. Inzwischen haben tatsächlich rund 20 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen, um »im Westen« ihr Geld zu verdienen, nachdem ihre Länder weitgehend von der lästigen Industrie befreit wurden.
Die heutige EU ist in einem bejammernswerten Zustand, falls man wirklich zum Jammern aufgelegt sein sollte. Wirtschafts- und Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Eurokrise, Brexitkrise sind zur Genüge beschrieben worden, auch die untauglichen Versuche, dieser Krisen Herr zu werden, bis hin zur Militarisierung des »Friedensprojekts EU«.
Nun will die Führung der EU über ein Weißbuch mit fünf Strategien diskutieren lassen, auch über einen »Grundpfeiler sozialer Rechte«, wie Herr Juncker verriet. All das wird nichts daran ändern, daß diese EU nicht zu verändern ist – weder durch Strategiedebatten noch durch »Reformen«. Bevor uns das ganze Projekt um die Ohren fliegt, sollten wir nach Wegen suchen, das Gebilde aufzulösen und durch eine Struktur zu ersetzen, bei dem diejenigen, die die Werte schaffen, auch über deren Verteilung bestimmen dürfen.
Uli Brockmeyer, Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek