Widerstand organisieren
In Kassel kämpfen SchülerInnen gemeinsam gegen die Unterfinanzierung ihrer Bildung. 1.000 sind deswegen Streiken gegangen. POSITION hat sich mit ihnen unterhalten und die AktivistInnen begleitet.
Es ist Montagmorgen und es ist kalt. Paul, Lukas und Marie-Luise, die von allen nur M-L genannt wird, stehen vor der Heinrich-Schütz-Schule in Kassel.
Die meisten sind erst etwas irritiert. So wird man nicht jeden Morgen an der Schule begrüßt. Viele wissen, dass heute Schulstreik ist. Aber fast genauso viele haben Angst Ärger zu bekommen, wenn sie sich an der Demo beteiligen. Das Schulamt hat versucht Druck auf die Schulleiter zu machen. Schüler, die ihr Demonstrationsrecht während der Schulzeit ausüben, sollen bestraft werden. Aber längst nicht alle lassen sich einschüchtern. 25 Schüler kommen mit zur Demo in die Innenstadt. „Am Ende mussten wir noch etwas warten, weil einer der jüngeren Schüler so begeistert war, dass er unbedingt erst noch ein Plakat malen musste, bevor wir los konnten“, erzählt M-L lachend. „Das war wirklich süß“.
Dass Kassels Schulen in einem katastrophalen Zustand sind, daran zweifelt eigentlich niemand. Politiker aller Parteien haben sich in Kassel schon entsprechend geäußert. Besonders stark ist die Offene Schule Waldau (OSW) betroffen. „Dort hat in gewisser Hinsicht auch der Streik. oder zumindest die Idee davon, seinen Anfang genommen“, meint M-L, die früher dort zur Schule gegangen ist.
Kein Geld da
2006: Die OSW erhält den „Deutschen Schulpreis“ der Robert-Bosch-Stiftung und der Heidehof Stiftung. 2009: Ihr wird u.a. vom Arbeitgeberverband und der Deutsche Bank Stiftung das Siegel „Starke Schule“ verliehen und sie erhält das Gütesiegel für die Berufs- und Studienorientierung. Herbst 2017: Es regnet wochenlang in die naturwissenschaftlichen Fachräume, die meisten Geräte sind so kaputt, dass sie aus Sicherheitsgründen nicht verwendet werden dürfen und an Stühlen mangelt es – Selbst eine Schule, die in der Vergangenheit regelmäßig Preisgelder gewann, kann also offenbar nicht einmal grundlegende Renovierungsarbeiten vornehmen.
„Wir Schüler wollten die Räume sogar selbst renovieren, weil die so abgefuckt aussahen“, berichtet Paul, ehemaliger Schüler an der OSW. Darauf hin hieß es: „Ihr könnt da eh nichts machen“, dafür bräuchte man Spezialisten. Und für die Spezialisten sei kein Geld da. Ein bisschen gestrichen haben einige Schüler trotzdem. Eigentlich waren in der Haushaltsplanung schon seit 2012 mehr als drei Millionen Euro für die Sanierung der Fachräume der OSW im Jahr 2016 eingeplant. Passiert ist aber nichts. Jetzt ist erst für 2020 wieder Geld vorgesehen. Diesmal sollen es 1,7 Millionen sein. Die OSW ist kein Einzelfall. 144 Millionen Euro braucht es insgesamt für die Sanierung der Kasseler Schulen. Dem gegenüber stehen lediglich 2,7 Millionen im Plan der Stadt für 2018. Das Land Hessen gibt 31 Millionen dazu. Selbst zusammengenommen ist das nicht einmal ein Viertel der nötigen Summe.
Klein anfangen
Damit wollten sich viele Schüler jedoch nicht zufriedengeben. An der OSW wurden deshalb in der Schülervertretung (SV) Arbeitsgruppen gegründet. Eine AG beschäftigte sich mit der Unterfinanzierung der Schulen, eine andere mit der Bundeswehr, in beiden sind auch SDAJ-Mitglieder aktiv. Und immer geht es um die eine Frage: Wie kann man aktiv werden?
Einige Monate später stehen 1.000 Schülerinnen und Schüler auf dem Schulhof der OSW und rufen „Wessen Schule? Unsere Schule!“. Und diese Schule hat nicht nur kaputte naturwissenschaftliche Fachräume, es ist auch das Dach undicht, es gibt Schimmel und die Toiletten könnten schon lange eine Grundsanierung vertragen. Genau dagegen richtet sich die Kundgebung und sogar der Schulleiter macht mit und hält eine Rede. Die Kundgebung ist Teil eines ganzen Projekttages, an dem viel über Bildung und Bildungsausgaben diskutiert wurde – alles organisiert von der SV. „Aber bevor wir angefangen haben den Projekttag zu organisieren, mussten wir uns erst mal informieren“, erzählt David, zu dem Zeitpunkt Schulsprecher der Schule. „Dafür haben wir unter anderem bildungspolitische Texte der SDAJ benutzt. Darin waren die Entwicklung der Bildungsausgaben, der Klassengrößen, die maroden Gebäude und so weiter Thema“. Am Projekttag gibt es auch eine Podiumsdiskussion mit Vertretern der Parteien. Zwischendurch dürfen die Schüler Fragen stellen. Viel kommt dabei nicht heraus. Die SPD-Vertreterin hat zwischendurch ohnehin wichtigere Fragen am Handy zu klären. Vor allem gibt es wie immer viel Gelaber. Die Parteien schieben sich gegenseitig die Schuld zu und keiner macht etwas. „Und so haben wir doch etwas Wichtiges gelernt,“ meint David: „Auf die können wir uns auf keinen Fall verlassen, wir müssen selber etwas machen“.
Auf dem Gruppenabend der SDAJ-Kassel wird über die Aktion gesprochen. Alle sind sich einig, dass vor allem David einen super Job gemacht hat. „Alle haben mitgemacht und hatten Spaß dabei und was vielleicht noch wichtiger ist: Sie haben was gelernt und selber was gemacht!“, meint David, „das ist der Erfolg“. „Aber wir hätten das auch als Gruppe mehr unterstützen müssen“, entgegnet Freya. „Also, ich meine, wir haben ja der SV auch viel geholfen, aber wir waren vor Ort gar nicht sichtbar“. Damit ist wiederum Paul nicht ganz einverstanden: „Naja, wir haben ja schon morgens Flyer verteilt. Die für die ‚Unterfinanziert kochen‘-Veranstaltung nächste Woche“.
Schon ziemlich gut, aber trotzdem geht’s noch besser! – so könnte man vielleicht das Fazit der Gruppe zur Aktion beschreiben. Aber bisher drehte sich alles nur die Offene Schule Waldau (OSW), dabei ist die Situation dort kein Einzelfall, sondern eher die Regel.
Zwei Ergebnisse
An der Wilhelm-Filchner-Gesamtschule steht Freya vor einem Problem: „Angeblich sollte es eine SV geben“, erzählt Freya lachend. „Aber ich musste denen erst einen Brief schreiben, damit ich überhaupt herausfinde, wer das ist.“ Freya hat Glück, die SV antwortet und es stellt sich heraus, dass die SV durchaus aktiv ist. Sie verkauft fleißig Kuchen in der Schule. Von den Einnahmen geht man dann als SV Kaffee trinken oder dekoriert den SV-Raum. Manchmal geht man auch auf irgendwelche Konferenzen, aber das spielt eher am Rande eine Rolle. „Der erste Schritt war es, überhaupt regelmäßige SV-Treffen zu machen und sich nicht nur am Kuchenstand zu treffen“, erinnert sich Freya. Der zweite Schritt ist dann eine Umfrage unter der Schülerschaft durchzuführen. Gesagt, getan – gemeinsam geht man durch die Klassen, stellt sich kurz vor und lässt die Bögen ausfüllen. Bei der Auswertung kommt vor allem eines heraus: Die Hausaufgaben sind insgesamt einfach zu viel. „Eigentlich hatte die Umfrage noch ein zweites Ergebnis“, meint Freya. „Auf einmal wusste die ganze Schule wer die SV ist.“
Auf einer Klassensprecherversammlung informiert die SV dann über eine Demonstration der Landesschülervertretung (LSV) für eine bessere Hausaufgabenregelung. Vorne stehen Freya und Max. Max ist erst 15 und war bis vor ein paar Wochen noch „Chefkuchenbäcker“ der SV. Jetzt leitet er die Klassensprecherversammlung. Nicht mehr Mehl, Milch und Zucker sind jetzt die entscheidenden Zutaten, sondern Überzeugungskraft, Motivation und gute Argumente: „Manche können sich Nachhilfe leisten, andere nicht. Manche bekommen Hilfe von ihren Eltern, andere nicht. Das ist doch unfair“, meint Max. Und Freya ergänzt: „Auch insgesamt ist der Stress zu hoch. Immer mehr Schüler bekommen Burnout oder fühlen sich zumindest sehr unter Druck gesetzt.“ Die Forderung der LSV, die Hausaufgaben durch eine feste betreute Lernzeit zu ersetzen, findet Anklang und viele wollen mit auf die Demo kommen, vor allem aus den unteren Jahrgangsstufen. Obwohl das Schulamt versucht, die Schüler einzuschüchtern und vom Streiken abzuhalten, beteiligen sich 30 Schülerinnen und Schüler der Wilhelm-Filchner-Schule.
Auf dem Weg zu Schulstreik
Der nächste Schritt war die Gründung eines Bündnisses, das weitere Aktionen organisieren sollte. In der SDAJ-Gruppe sind alle in ihren SVen an ihrer Schule aktiv. „Das ist schon ein guter Stamm an Leuten. Wir haben uns dann zusätzlich auf die anderen Schulen aufgeteilt“, erklärt M-L. Sie und Freya waren an der Hegelsbergschule. Die Schule ist insgesamt marode und es regnet rein. Die Unterschriftenliste für mehr Geld für Kassels Schulen schlägt hier richtig ein. Der Effekt ist ähnlich wie bei der Umfrage in der Wilhelm-Filchner-Schule: Viele Leute werden angesprochen, informiert und das Bündnis wird in vielen Schulen bekannt. „Noch wichtiger ist aber die Mund-zu-Mund-Propaganda, wir haben einfach auch mit sehr vielen Leuten gesprochen, die wir über unsere SV-Kontakte kannten“, erklärt Freya. Wenig später findet bei bestem Wetter eine erste Kundgebung des Bündnisses mit 70 Leuten statt. Das Megafon wird herumgereicht: Ein Schüler erzählt, wie es bei ihm in die Klassenräume und den Flur reinregnet. Ein anderer berichtet von den viel zu großen Klassen.
Am 11. Dezember ist es dann soweit: Paul, Lukas und M-L kommen gemeinsam mit den Schülern der Heinrich-Schütz-Schule vor dem Rathaus an. Das Datum ist nicht zufällig gewählt. An diesem Tag wird in der Ratssitzung der neue Haushalt beschlossen und damit auch festgelegt, wie viel Geld in die Sanierung der Schulen gesteckt wird. Fast 1.000 Schülerinnen und Schüler sind gekommen, auch einige Eltern und Lehrer. Am Anfang ist allen noch sehr kalt. Aber das ändert sich schnell: „Hoch mit der Bildung, runter mit der Rüstung“ wird gerufen und sich dabei erst bei ‚Bildung‘ in die Luft gestreckt und dann bei ‚Rüstung‘ hingehockt. Nach einer Stunde kann es endlich losgehen. 1.000 Jugendliche ziehen gut gelaunt und lautstark durch die Kasseler Innenstadt. „Bildung für alle und zwar umsonst!“ und „Wessen Bildung? Unsere Bildung! Wessen Zukunft? Unsere Zukunft! Wessen Straße? Unsere Straße!“ sind die beliebtesten Parolen.
Der Rat beschließt trotz der Demo nicht mehr Geld für die Schulen. „Das haben wir aber auch nicht erwartet“, meint Josefina, die auch im Schulstreikbündnis aktiv ist. „Das Entscheidende ist, dass viele Schüler da waren, die die sonst gar nicht politisch sind, die heute das erste Mal in ihrem Leben ein Transparent gehalten haben und für ihre Rechte aktiv geworden sind.“
Jann, Essen
Quelle:
SDAJ – Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend