Streiken die Eisenbahner für »Privilegien«?
Aus der Sicht der Gewerkschaftsfront, die zum Streik bei der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF aufgerufen hatte, waren die ersten zwei Streiktage, denen bis Ende Juni weitere 34 folgen sollen, ein großer Erfolg.
77 Prozent der Lokführer streikten, jeder zweite Eisenbahner aus dem schienengebundenen Personentransport blieb der Arbeit fern, knapp 15.000 Eisenbahner nahmen an Streikversammlungen teil.
Im Vorfeld der Arbeitsniederlegung hatte die neoliberale Regierung von Präsident Macron, unterstützt von einem Großteil der Presse, eine massive Verleumdungskampagne gegen die Eisenbahner und ihre Gewerkschaften geführt, und die Direktion der SNCF hatte die Beschäftigten stark unter Druck gesetzt.
Die große Zahl der Streikenden macht deutlich, dass das Trommelfeuer gegen die Gewerkschaften im Allgemeinen und die Gehässigkeiten gegen führende CGT-Gewerkschafter im Besonderen bei einem großen Teil der Eisenbahner nicht wirkte, was darauf zurückzuführen ist, dass die Wut, die sich in der Vergangenheit bei den Eisenbahnern aufstaute, groß ist.
Aber die Streikaktion hat erst begonnen, und es muss erwartet werden, dass Regierung und SNCF alles daran setzen werden, um die Öffentlichkeit und die Schaffenden, die mit dem Zug zur Arbeit fahren, während der nächsten Wochen gegen die Eisenbahner aufzuwiegeln.
Bei Menschen, die nicht in sozialen Zusammenhängen denken und alles an ihren eigenen kurzfristigen Vor- und Nachteilen messen, kann das schnell gehen, insbesondere wenn der Streik länger dauert und es den Massenmedien, die Kapital- und Regierungsinteressen verteidigen – und das sind die allermeisten – gelingen sollte, ihnen einzureden, die Gewerkschaften würden sie als Geisel benutzen, um eigene »Privilegien« durchzusetzen – so geschehen zum Beispiel bei den Streiks der Lokführergewerkschaft vor knapp drei Jahren in Deutschland.
Dabei geht es in Wirklichkeit um alles andere denn um »Privilegien«, sondern darum, zu verhindern, dass bei der SNCF zunehmend Arbeitsplätze abgebaut werden, das Eisenbahnerstatut zerschlagen wird, die Strecken nicht rechtzeitig erneuert, Sicherheitsbestimmungen missachtet, immer mehr Wartungsarbeiten an Privatunternehmen ausgelagert, Nebenstrecken im Personentransport, die keinen Profit abwerfen, stillgelegt oder privatisiert werden.
Es geht auch generell um die Frage, ob der französische Staat die SNCF als öffentliches Instrument einsetzen soll, um den gesellschaftlichen Bedürfnissen im Personen- und Warentransport nachzukommen, oder ob die Regierung mit der staatlichen Eisenbahngesellschaft Monopoly spielen darf, um Maximalprofite auf Kosten der Allgemeinheit zu erzielen, wie das bereits bei der Energiegesellschaft EDF, der Post und France Telecom der Fall ist.
Damit wird deutlich, dass der Streik bei der staatlichen Eisenbahngesellschaft nicht nur die Eisenbahner etwas angeht, sondern alle Lohnabhängigen.
Im Falle, dass die Streikenden ihre Forderungen ganz oder zum Teil durchsetzen, wird sich das nicht nur positiv auf die Beschäftigten der SNCF und den öffentlichen Transport auswirken, sondern die Interessen aller Lohnabhängigen stärken. Aber auch eine Niederlage hätte nicht allein für die Eisenbahner negative Folgen, sondern für die Gewerkschaften insgesamt und für alle Schaffenden.
Unter diesen Umständen ist nicht nur Durchhaltevermögen bei den Gewerkschaften und den Eisenbahnern erfordert, sondern auch und vor allem Solidarität.
Ali Ruckert
Quelle:
Aus: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek