20. November 2024

Sozialismus statt Schreibtischszenarien

Heute wurde um 13 Uhr türkischer Uhrzeit im Istanbuler Büro des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) eine Pressekonferenz zu den Verhaftungen in Ankara von letzter Woche – darunter der junge Welt- und re:volt-Autor Max Zirngast – abgehalten. Es sprachen unter Anderem der HDP-Parlamentsabgeordnete und TIP-Gründungsmitglied Erkan Baş, der Anwalt von Max Zirngast Tamer Doğan, Jüliana Gözen für die sozialistische TÖP, Levent Tüzel für die sozialistische EMEP sowie der Generalsekretär der linken Halkevleri, Nuri Günay. Im Folgenden dokumentieren wir, leicht gekürzt, die Erklärung der TÖP (Toplumsal Özgürlük Partisi, dt.: Partei der sozialen Freiheit) in deutscher Übersetzung.

Wie die demokratische Öffentlichkeit weiß, planen wir unseren seit mehreren Jahren verfolgten Prozess der Parteigründung in diesem Jahrab zuschließen. Einer der Gründer unserer Partei, Mithatcan Türetken – der einer von den derzeit Inhaftierten ist – ging deshalb im Juni zur zuständigen Abteilung des Innenministeriums. Er informierte sich über die rechtlichen Prozeduren und kündigte an, dass wir einen Antrag auf Gründung als Partei stellen werden.

Da es rechtlich zwingend erforderlich ist, die Parteizentrale in Ankara zu eröffnen, mieteten wir uns ein Büro in einem Arbeiterviertel von Ankara an. Nachdem das Gründungskomitee die nötigen Dokumente zusammengetragen hatte, wurde der Gründungsantrag vervollständigt und den Anwälten übergeben. Wir planten, öffentlich angekündigt, einTreffen des Gründungskomitees im Oktober zu veranstalten und danach offiziell den Antrag beim Ministerium zu stellen.

Während der Prozess Schritt für Schritt in öffentlichen Treffen beschlossen wurde, wurden wir von einigen Staatsbeamt*innen verfolgt und beschattet. Wir wissen nicht, wer sie zu welchen Zwecken beauftragte. Die Beschattung erfolgte dabei nicht geheim, sondern offen und drangsalierend. Dies geschah trotz unserer Herangehensweise, alle unsere Beschlüsse und alle unsere Tätigkeiten öffentlich zuteilen. Die Beschattung wurde beharrlich fortgesetzt, ohne dass es dafür rechtliche Verfügungen gab.

Die aktuellen Festnahmen kurz vor unserem offiziellen Antrag im Oktober dienen offensichtlich dazu, unsere Parteigründung zu torpedieren.

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Auch schon vor der aktuellen Festnahmewelle fanden viele Festnahmen und Versuche der Verhinderung unserer Tätigkeit statt. Insbesondere seit der Übernahme des Polizeiapparats durch die sich selbst „Cemaat“ [„Religionsgemeinschaft“, gemeint ist die Gemeinschaft des Predigers Fetullah Gülen; Anm. d. Red.] nennende Geheimorganisation, nahmen die Versuche der Behinderung unserer Arbeit als TÖP andere Formen als zuvor an. Viele unserer Freund*innen wurden auf Grundlage von an den Haaren herbeigezogenen Schreibtischszenarien in Gewahrsam genommen; ihnen wurde vorgeworfen, Mitglieder von unterschiedlichsten Organisationen zu sein, die es bevorzugten, ihre Politik geheim zu machen. Manche wurden länger inhaftiert – aber alle wurden letztlich von Gerichten vollständig freigesprochen. Diese konstruierten Verfahren nahmen solche Ausmaße an, dass unseren Freund*innen mittlerweile Mitgliedschaften bei fast jeder Organisation in der Türkei, die geheim operiert, vorgeworfen wurde.

Esist offensichtlich, dass hier nicht auf Grund von „Fehlern“ oderaufgrund von „Verdacht“ Untersuchungen eingeleitet werden,sondern dass es bewusst darum geht, offen geführte sozialistischePolitik zu verhindern. Es ist ein de facto Verbot von sozialistischempolitischen Kampf, wenn einer offenen sozialistischen Organisationdas Verfahren gemacht wird wegen Mitgliedschaft beiunterschiedlichsten geheimen Organisationen. Das erkämpfte Recht derWerktätigen, eine sozialistische Partei zu gründen undsozialistische Politik zu machen, wird somit auf illegalen Wegen defacto verunmöglicht.

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Drei Punkte wollen wir nochmal ganz besonders betonen:

1. Die Toplumsal Özgürlük Partisi besteht aus sich selbst und hat keine Beziehungen mit anderen politischen Organisationen, ob geheimer oder offener Natur.

2. Die TÖP hat sich im Zuge ihrer Parteiformation und in Folge von Diskussionsprozessen dazu entschlossen, ihre Gründung offen und auf legaler Grundlage zu vollziehen und ihre Tätigkeiten öffentlich und auf legaler Basis bekanntzugeben und durchzuführen. Dies ist eine politische Haltung.

3. Wenn die TÖP mit einer anderen politischen Organisation in Beziehungtreten sollte, wird sie dies nicht verstecken, sondern öffentlich vollziehen. Die Partei kann auf Grundlage ihrer Struktur mit Organisationen und Personen, die auf ähnlicher Grundlage agieren und offene sowie legale Politik betreiben, in Beziehungen treten, Bündnisse oder Aktionseinheiten gründen. Solche Entwicklungen hat es früher schon gegeben und wird es auch weiterhin geben; sie werden öffentlich bekanntgegeben und vollzogen. Diese Haltung entspringt und entspricht den Regeln politischer Tätigkeit auf offener und legaler Basis.

Die Inhalte dieser Erklärung sind den betreffenden Personen der linken Öffentlichkeit genauso wie den Staatsbeamt*innen, die unsereTätigkeiten beschatten, vollständig bekannt. Die Erklärung zielt darauf, die breite Öffentlichkeit zu informieren.

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Wir verurteilen auf das Schärfste die Inhaftierungen in Ankara, die auf Ermittlungsdossiers von Mitgliedern der kriminellen Organisation „Cemaat“ beruhen. Unseren in Polizeigewahrsam befindlichen Freund*innen wird keine einzige Frage gestellt, aber die Haftfrist trotzdem permanent verlängert. Es ist offensichtlich, dass irgendwelche Schreibtischszenarien entworfen und dementsprechende Beweise herbeikonstruiert werden.

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Die TÖP befindet sich in einem Prozess der Gründung als einer Partei. Unser Ziel ist es, ein sozialistisches Land aufzubauen. Es geht uns darum, den Kapitalismus, der unser Land in einen Brandherd verwandelt, abzuschaffen. Tagesaktuell betrachtet sind wir Teil der Freiheitssuche der popularen Kräfte, die von einer despotischen politischen Ordnung permanent unterdrückt werden. Unser Parteiname wurde als politisches Symbol dieser Suche gewählt.

Eine demokratische Verfassung und die Gründung einer demokratischen Republik entsprechen den Minimalbedürfnissen der popularen Kräfte. Selbstverständlich positionieren wir uns deshalb gegen das derzeitige politische Regime, das sich um die Person von Erdoğan zentriert und dem Ziel einer demokratischen Verfassung sowie einer demokratischen Republik diametral entgegengesetzt ist.

Wir versuchen weiterhin, Teil der legitimen Selbstverteidigung und Sprachrohr der Bedürfnisse und der Freiheitssuche all derjenigen popularen Kräfte zu sein, die die despotische politische Ordnung zu ersticken versucht, mit der Arbeiter*innenklasse als Quelle des Reichtums der kapitalistischen Ausbeutungsordnung an zentraler Position.

Die demokratische Verfassung wird hierbei die Garantie zur Erfüllung der Minimalbedürfnisse der popularen Kräfte bilden. Die demokratische Republik wird eine sein, in der die popularen Kräfte auf Grundlage ihrer eigenen Bedürfnisse und in Frieden und Wohlstand, in Selbstorganisation und -verwaltung leben werden.

Wir verstecken weder uns, noch unsere Tätigkeiten, noch unsere Ziele und Zwecke. Es sieht wohl so aus, als ob unsere Tätigkeiten und unsere Parteigründung die Kräfte des Kapitals und des Despotismus beunruhigen.

Falls wir verurteilt werden sollen, dann verurteilt uns auf Grundlage unserer eigenen Tätigkeiten. Wenn ihr sozialistische Parteien und ihre Gründungen verbieten wollt, dann tut dies nicht mit absurden Szenarien, sondern versucht die Gesetze zu ändern im Parlament, indem ihr die Mehrheit innehabt.

Wir werden weiterhin versuchen, uns im Oktober als Partei zu gründen –trotz aller Repression. Unsere Gründungserklärung wird nach dem Treffen des Gründungskomitees am 11. bis zum 14. Oktober 2018 öffentlich kundgegeben.

Quelle:

re:volt magazine

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