Die Anklage gegen Max Zirngast: Protokoll einer (Selbst)Entlarvung
Der Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast liegt die Anklageschrift gegen Max Zirngast vor. Wir geben im Folgenden einen exklusiven Einblick in die Vorwürfe. Es ist die erste Analyse einer Anklage, die sich schon bei oberflächlicher Lektüre nicht nur als ein abstruses und böswilliges Konstrukt unbelegter Behauptungen und Mutmaßungen erweist, sondern in weiten Teilen sogar jeder Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit sowie zuweilen gar von Logik entgegenläuft.
Prekäre Freiheit mit Auflagen: Der gegenwärtige Stand der „Causa Zirngast“
Max Zirngast ist endlich frei. Nach über drei Monaten willkürlicher Inhaftierung wurde Max Zirngast überraschenderweise zu Weihnachten, am 24. Dezember 2018 aus der Haft entlassen. Tags darauf konnte er auch den Polizeigewahrsam verlassen. Die Solidaritätskampagne berichtete ausführlich darüber. Auf der Seite der Unterstützer_innen waren zuvor auch Briefe von Max Zirngast veröffentlicht worden, welche die Zeit im Gefängnis samt miserabler Haftbedingungen und Kommunikationsmöglichkeiten beschrieben.
So wenig wie seine Inhaftierung mit Rechtsstaatlichkeit zu tun hatte, so wenig hatte auch seine Enthaftung. Es scheint offensichtlich, dass gewisse Deals im Hintergrund gelaufen sind. Der Weihnachtstag als Zeitpunkt der Entlassung und die plötzliche Beschleunigung des Verfahrens deuten unter anderem darauf hin. Dennoch freuen wir uns selbstverständlich ungemein über die Freilassung von Max Zirngast und den anderen mit ihm Inhaftierten. Die aktuellen Entwicklungen führen uns damit umso deutlicher vor Augen, dass es in der Türkei bei dieser Art Verfahren allein um politische Willkürjustiz geht – aber auch, dass es allen voran dem medialen und gesellschaftlichen Druck sowie dem breiten solidarischen Engagement zu verdanken ist, dass dieser Willkür Grenzen aufgezeigt werden.
Max Zirngast ist aber mitnichten außer Gefahr. Knapp zwei Tage nach seiner Freilassung reichte ein Staatsanwalt beim 26. Gericht für Schwerverbrechen in Ankara einen Einspruch gegen die Haftentlassung ein. Das 27. Gericht für Schwerverbrechen hat nun über diesen Einspruch zu entscheiden, wobei unklar ist, bis wann diese Entscheidung erfolgen muss.
Während der ganzen Zeit der Inhaftierung schwebte auch die Anklageschrift wie ein schwer fassbares Phantom im Raume: Niemand wusste, wann sie sich materialisiert und was Max Zirngast darin im Konkreten vorgeworfen wird. Eine erste Anklageschrift, die von der Staatsanwaltschaft Ende November dem Gericht vorgesetzt wurde, wurde aufgrund von unzulässigen Passagen abgelehnt. Nun endlich liegt eine Anklage vor, welche das Gericht wohl als zulässig erachten. Doch auch bei dieser handelt es sich – wie erwartet – um ein höchst eigentümliches Konvolut, dessen Willkürlichkeit es durch unentwegte Kritik zu entlarven gilt. Dies ist umso wichtiger, wenn wir uns vor Augen führen, wie prekär die derzeitige Freiheit von Max Zirngast ist. Sind wir weiterhin erfolgreich darin, Solidarität auszuüben und Druck aufrechtzuerhalten, können wir die wirkliche Freiheit von Max Zirngast erreichen.
Die große Erzählung der Anklage
In der uns nun vorliegenden 123-seitigen Anklageschrift wird deutlich, dass Max Zirngast über zwei Monate lang beschattet und über fünf Monate hinweg abgehört wurde. Zahllose Gespräche und Treffen, die er mit laut Polizeiangaben teils „unbekannten“ Personen abhielt, sind in die Anklage mit aufgenommen worden. Großteils ist in diesen Protokollen nur verzeichnet, dass sich Max Zirngast mit irgendjemandem irgendwo – in Cafés, Bars, Gewerkschaftsbüros – getroffen und irgendetwas beredet hat, sowie dass er einen Rucksack oder einen Beutel dabei hatte. Kurz: Es werden Dinge angeführt, die wohl die meisten Menschen tagtäglich tun. Sogar seine Freundin wird namentlich identifiziert und in die Anklageschrift aufgenommen. Was diese Aufzeichnungen belegen sollen, bleibt unklar. Mit derselben Ratlosigkeit bleibt man auch angesichts des Umstands zurück, dass die Anklage ganze 79 Bücher, Geschichtswerke, Zeitschriften und Zeitungen anführt, die aus dem Besitz von Max Zirngast beschlagnahmt wurden, darunter auch ein Comic des Kommunistischen Manifests von Friedrich Engels und Karl Marx.
In der „Beweisführung“ der Anklageschrift werden die unterschiedlichsten Dinge miteinander vermengt, von denen bemerkenswerterweise viele selbst nach türkischem Recht keinerlei Straftatbestand darstellen. So wird etwa aufgeführt, dass Max Zirngast mutmaßlich ökologische und feministische Gruppierungen unterstützt haben soll und für eine monatlich erscheinende sozialistische Zeitschrift schrieb. Dann heißt es wieder, dass er in gewissen Artikeln angeblich das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte „delegitimiere“ oder die in Nordsyrien/Rojava aktive YPG „verharmlose“ (welche von der Türkei als Frontorganisation der PKK betrachtet wird). Zudem ist von Bildern von im Gefecht getöteten Militanten oder gegen die Militärinvasion in Afrin die Rede, die auf seinem PC gefunden worden seien, aber auch von Bildungskursen, die Max Zirngast für bedürftige Kinder angeboten hat. Nicht zuletzt werden in der Anklage sogar Philosophie-Kurse, die er abgehalten hat, zum Thema gemacht.
All dies wird in diesem Phantom einer Anklage zu einer Master-Erzählung einer zentral führenden Tätigkeit für eine ominöse „bewaffnete illegale Terrororganisation“ zusammengeführt: Max Zirngast soll laut Anklageschrift der „Ankara-Verantwortliche der illegalen bewaffneten Organisation TKP/K“ sein. Alle in der Anklageschrift aufgelisteten Tätigkeiten Zirngasts seien Belege hierfür. Ja, auch die Philosophie-Kurse und die Bildungskurse für Kinder. Im Folgenden schauen wir uns einige zentrale Punkte der „Beweise“ und die Argumentationslogik des Staatsanwaltes genauer an.
Das Phantom der „illegalen bewaffneten Terrororganisation“
Das Hauptargument des Staatsanwaltes, auf dem fast alles Weitere beruht, ist im ersten, „historisch“ einführenden Teil der Anklage sowie im Schlussteil festgehalten: Darin wird ausführlich dargestellt, wie angeblich Anhänger des 1971 im Belgrader Exil verstorbenen kommunistischen Theoretikers Dr. Hikmet Kıvılcımlı eine politische Organisation schufen, aus der nach vielen Abspaltungen die „illegale bewaffnete Terrororganisation TKP/K“ hervorgegangen sei. Noch heute existierende Organisationen wie Toplumsal Özgürlük Parti Girişimi (TÖPG), aber auch viele andere Organisationen wie die feministischen Kampushexen, der Freiheitliche Jugendverein (ÖGD) und einige andere politische und zivilgesellschaftliche Gruppierungen werden sodann als „legale Frontorganisationen“ jener „TKP/K“ bezeichnet. Es sei die „TKP/K“, von der die Initiative und die Befehle für die Tätigkeiten der genannten Organisationen ausgehen würden. Für keine der genannten legalen Organisationen werden Straftaten genannt außer der gemutmaßten Zugehörigkeit zur „TKP/K“. Einzig in Bezug auf die Kampushexen wird zusätzlich angeführt, diese würden nicht nur „gegen Gewalt an Frauen und für Demonstrationen gegen Gewalt“ werben, sondern „die Massen manipulieren und Hassreden gegen die Staatsoberen“ lancieren.
Folgerichtig wäre wohl zu erwarten, dass eine solche Beweisführung mit weitreichenden Belegen für die Existenz und die Aktivitäten der sogenannten „TKP/K“ aufwartet. Derlei Beweise für die „terroristischen“ Aktivitäten einer „TKP/K“, ja überhaupt für ihre Existenz (!), sowie für den „organischen“ Zusammenhang zwischen jener Organisation und allen anderen aufgezählten legalen politischen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen bleibt der Staatsanwalt jedoch gänzlich schuldig! Es wird in der gesamten Anklageschrift kein einziges Indiz angeführt, nicht ein einziger Quellennachweis für irgendeine dieser Behauptungen geliefert. Es wird einfach behauptet, jene Organisation und ihre Beziehungen mit den aufgezählten Organisationen samt angenommener Befehlskette existierten.
Weiter wird übrigens behauptet, dass einige der genannten Organisationen sich voneinander abgespalten hätten. An gleich zwei Stellen wird beispielsweise behauptet, die TÖPG sei selbst erst als eine Abspaltung aus der „TKP/K“ hervorgegangen, habe sich also offensichtlich von ihr getrennt – unmittelbar nachdem behauptet wird, die TÖPG sei eine Frontorganisation der „TKP/K“. Man fragt sich: Soll es sich nun jeweils um Frontorganisationen der „TKP/K“ oder um miteinander überworfene Abspaltungen handeln? Oder wie sonst sollen angeblich voneinander abgespaltene Organisationen Vorfeldorganisationen derselben „illegalen bewaffneten Terrororganisation“ sein können? Zu all dieser Verwirrung kommt hinzu, dass der Staatsanwalt seitenweise Beschlüsse des türkischen Staatsrates – einem der höchsten zivilen Berufungsgerichte in der Türkei – zitiert, wonach eine quasi lückenlose Beweisführung anhand konkreter Beweise und konkreter Aktionen sowie einer kontinuierlichen und zielgerichteten „terroristischen“ Tätigkeit vorgelegt werden muss, um die Existenz einer „Terrororganisation“, aber auch des organischen Verhältnisses ihrer Mitglieder zu derselben beweisen zu können.
Wäre dies in der Anklageschrift ernsthaft beherzigt worden, die Ergebnisse wären ernüchternd gewesen. Dies lässt sich anhand eines Beschlusses des 4. Gerichts für Schwerverbrechen in Adana in einem ähnlich gelagerten Fall aus dem Jahre 2015 deutlich machen. Den Angeklagten, mutmaßlich Aktivist*innen der TÖPG, wird vorgeworfen, Mitglieder derselben „TKP/K“ zu sein. Es lohnt sich, den betreffenden Teil des Gerichtsbeschlusses ausführlicher zu zitieren (4. Gericht für Schwerverbrechen Adana, Entscheidungsnr. 2015/73, Ordnernr. 2014/184, S. 9, aus dem Türkischen übersetzt von der Redaktion):
„Feststellung darüber, ob die TKP/K … eine terroristische Organisation ist oder nicht:
1. In einem Bericht des Polizeigeneraldirektorats vom 04.11.2014 wird die fast 60-jährige Geschichte der TKP/K seit 1954 detailliert dargestellt und festgehalten, dass bestimmte Mitglieder dieser Organisation bestimmte Straftaten … begangen haben. [Diese] sind aufgelistet unter 64 Überschriften. Aber eine Anfrage nach endgültigen Gerichtsbeschlüssen brachte nur einen Beschluss der Staatsanwaltschaft Hatay … hervor, in dem festgehalten wird, dass 1997 8 Mitglieder dieser Organisation … festgenommen wurden. Dies bedeutet, dass in den gesamten 60 Jahren ihrer Existenz kein endgültiger Gerichtsbeschluss über diese Organisation vorliegt, die festlegt, ob diese Organisation eine terroristische ist oder ob Mitglieder dieser Organisation für schuldig befunden wurden.
2. Es gibt keinen Vorwurf oder Beweis darüber, dass diese Gruppe eine bewaffnete Terrororganisation ist.
3. Ein eindeutiger Organisationszweck der Überwindung der verfassungsmäßigen Ordnung kann nicht festgestellt werden, ebenfalls haben die Angeklagten keine offenen Stellungnahmen in dieser Richtung abgegeben. Die Behauptung eines solchen Zwecks beruht auf Interpretationen. Und gesetzt es gäbe einen solchen Zweck, sind keine individuellen kriminellen Tatbestände festgehalten, die eine Verfolgung dieses Zweckes durch Gewalt und Zwang darstellen würden, noch gibt es Indizien in dieser Hinsicht. Keine der in die im Bericht des Polizeigeneraldirektorats erwähnten 64 Handlungen involvierten Organisationsmitglieder wurde gerichtlich verurteilt.
4. Die Organisationsstruktur, die Führer und die Stellung der Angeklagten innerhalb der Organisation konnten nicht mittels konkreter Beweise dargestellt werden.
5. Der Anklageschrift wurden keine Gerichtsbeschlüsse beigelegt, die eine illegale Aktivität der im Rahmen der Anklage in den Zusammenhang mit der genannten Organisation gerückten Vereine feststellen würden. Ebenfalls gibt es keine Aufzeichnungen darüber, dass diese Vereine wegen illegaler Tätigkeit vor Gericht gebracht wurden.“
Die damals Angeklagten werden konsequenterweise vom Vorwurf der Mitgliedschaft bei der „TKP/K“ freigesprochen. Es ist erstaunlich, dass der Staatsanwalt selbst in der Anklageschrift auf diesen Beschluss verweist – mit der lapidaren Anmerkung, dass er „im Sinne der Angeklagten“ eingereicht worden sei. Was die gegen Max Zirngast erhobenen Vorwürfe noch abstruser macht, ist, dass sich die besagte „illegale bewaffnete Terrororganisation TKP/K“ weder auf der „Liste der Terroristen“ des türkischen Innenministeriums noch auf der „Liste der aktiven Terrororganisationen“ des Polizeigeneraldirektorats der Türkei findet (siehe etwa hier, hierund hier). Max Zirngast wird also vorgeworfen, hoher Funktionsträger einer „illegalen bewaffneten Terrororganisation“ zu sein, von der es unterschiedlichen staatlichen Stellen zufolge keinen Beweis gibt, dass sie denn tatsächlich „terroristisch“ ist. Vielmehr noch: ob sie überhaupt existiert. Geschweige denn davon, dass sie „Beziehungen“ unterhalte zu „legalen Frontorganisationen“.
Das Konstrukt des Ankara-Verantwortlichen
Von einer Anklageschrift, deren zentrale Argumente so dermaßen wirr und substanzlos sind, lässt sich demnach auch keine Beweisführung erwarten, die schlüssig konkrete Straftatbestände und Zusammenhänge lückenlos aufweist. Die zentrale Logik der Beweiskette betreffs der „Schuld“ von Max Zirngast, die teils sehr weit ausschweift und nur selten zum Punkt kommt, ist wie folgt:
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Er besitze Bücher, die auch TÖPG-Mitglieder besitzen (zum Beispiel Bücher von Hikmet Kıvılcımlı, Zeitschriften der TÖPG und so weiter), er beteilige sich manchmal an Aktionen von TÖPG oder schreibe für deren Zeitschriften, oder er unterhalte Beziehungen zu TÖPG-Mitgliedern.
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Die TÖPG sei die legale Frontorganisation der bewaffneten illegalen „TKP/K“.
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Außerdem „delegitimiere“ Max Zirngast in Schriften die türkischen Sicherheitskräfte und „verharmlose“ die YPG.
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Folglich sei Max Zirngast der Ankara-Verantwortliche der „TKP/K“.
Bei jedem einzelnen „Beweis“ taucht dieses Argumentationsmuster auf, zum Teil in sehr abenteuerlicher Manier. So zum Beispiel betreffs der Bücher und Broschüren, die Max Zirngast besitze. Darunter seien eben einige Bücher von Hikmet Kıvılcımlı. Nun sind die Bücher von Hikmet Kıvılcımlı in der Türkei überhaupt nicht verboten, Verlage drucken sie legal, in Buchläden kann man sie ganz regulär kaufen. Zirngasts Rechtsanwalt Murat Yılmaz hatte zudem in der Vernehmung beim Staatsanwalt vom 20. September 2018 darauf verwiesen, dass sogar der staatliche Fernsehsender TRT einen Dokumentarfilm über Leben und Werk von Hikmet Kıvılcımlı produziert habe. Aber in der Anklageschrift bedeutet der Besitz von Büchern des Dr. Hikmet Kıvılcımlı: Mitgliedschaft bei der „illegalen bewaffneten Terrororganisation TKP/K“, da dessen Werke die ideologische Quelle derselben seien. Auf ähnliche Art und Weise werden Besitz von Zeitschriften oder Zeitungen der TÖPG oder der Kampushexen als Indizien im Sinne der Anklage gewertet, denn die genannten Organisationen seien ja Frontorganisationen der genannten „Terrororganisation“!
Besonderen Wert legt die Anklageschrift auf „Indizien“ im Zusammenhang mit feministischen und ökologischen Organisationen. So wird mehrmals hervorgehoben, dass Max Zirngast Materialien der feministischen Kampushexen besitze, mit Mitangeklagten auf 8. März-Demonstrationen gegangen sei, Texte von Mitgliedern der Kampushexen für das re:volt magazine auf Deutsch übersetzt habe, ja angeblich während einer Beschattung sogar beim Kleben von feministischen Stickern „ertappt“ wurde. Alle diese „Beweise“ sollen darlegen, dass Max Zirngast führend an der Organisation der Kampushexen beteiligt sei. Weder gelingt dies der Beweisführung, noch wäre es aber überhaupt strafbar, Mitglied bei den Kampushexen zu sein – die im Übrigen eine Frauen*organisation ist. Weil aber die Kampushexen nur eine legale Frontorganisation besagter „illegaler Terrororganisation“ sein sollen, wird eine Aura, ein Phantom der Schuld suggeriert. Es wird in einem weiteren Abschnitt wieder indirekt behauptet, Max Zirngast sei Mitglied der ökologischen Organisation Doğanın Çocukları (Kinder der Natur) gewesen. Zwar wäre auch daran nichts strafbar, aber nicht einmal diese vermeintliche Mitgliedschaft vermag der Staatsanwalt zu beweisen. Deshalb bleibt es bei Andeutungen („ist auf Bildern von Doğanın Çocukları zu sehen“). Dann werden eine Reihe von Tweets und Nachrichtenartikeln der Organisation gegen Umweltzerstörung in der Türkei aufgelistet, um sodann zu behaupten, die Doğanın Çocukları strebe eine „Massenbewegung“ ähnlich wie bei den Gezi-Park-Protesten 2013 an. In der türkischen Willkürjustiz taucht seit geraumer Zeit wieder der Vorwurf der Beteiligung beim Gezi-Park-Protest beziehungsweise der Vorwurf, Menschen zu ähnlichen Aufständen anzustacheln, auf. Beides, so die mittlerweile gängige Argumentation, beabsichtige den „gewaltsamen Umsturz der Regierung“. Die Anklageschrift gegen Max Zirngast formuliert diesen absurden Vorwurf nicht explizit aus, suggeriert aber offensichtlich die Existenz eines solchen Straftatbestandes. Da schon allein die Beschwörung eines Phantoms von „regierungsumstürzlerischer Tätigkeit“ mit dem Verweis auf Gezi eine Aura von schwerer Schuld mit heraufbeschwört, soll damit insgesamt der Eindruck einer „illegalen terroristischen Tätigkeit“ suggeriert werden.
Ähnlich liest sich die „Beweisführung“ hinsichtlich der Artikel von Max Zirngast, die als angeblich belastendes Material in die Anklage mit aufgenommen wurden. Namentlich werden zwei von Max Zirngast (mit-)verfasste Artikel angeführt. Einmal der Artikel „Erdoğan’s Bloody Gambit“, der ursprünglich im OnlinemagazinJacobinam 3. August 2015 veröffentlicht wurde. Am Tag darauf wurde er auch auftoplumsalozgurluk.org publiziert. Die Anklageschrift behauptet, in diesem Artikel werde dem türkischen Staat vorgeworfen, Jihadisten zu unterstützen, die YPG zu legitimieren und das Vorgehen des türkischen Militärs und der türkischen Polizei zu delegitimieren. Zum anderen wird auf einen Artikel verwiesen, den Max Zirngast gemeinsam mit dem Volkswirtschaftler Güney Işıkara und dem Politikwissenschaftler Alp Kayserilioğlu für den von dem Historiker Ismail Küpeli im September 2015 herausgegebenen Band Kampf um Kobanêverfasst hat. Auf diesen Beitrag selbst, der sich fast ausschließlich auf die Entwicklung der politischen Ökonomie der Türkei seit 1980 und nicht auf Kobanê konzentriert, geht die Anklageschrift aber gar nicht ein. Das hatte Max Zirngast schon in der Vernehmung beim Staatsanwalt angemerkt und den Staatsanwalt dazu aufgefordert, die für belastend befundenen Texte vorzulegen und konkret an einschlägigen Passagen Straftatbestände festzumachen. Den Staatsanwalt interessiert hier hauptsächlich der Umstand, dass die mutmaßlich PKK-nahe Nachrichtenplattform ANF Deutsch in einem Nachrichtenartikel zur Inhaftierung von Max Zirngast darauf verwiesen habe, dass er einen Beitrag für eben erwähntes Buch geschrieben habe. Auch hier verbleibt die Anklageschrift im Nebulösen, es wird nicht ausgeführt, wer in dieser Angelegenheit welchen Straftatbestand erfülle. Überhaupt führt der Staatsanwalt wie so oft nicht aus, wie genau diese Schriften und die in ihnen enthaltenen „Straftatbestände“ mit dem allgemeinen Vorwurf der Beteiligung an einer „illegalen bewaffneten Terrororganisation“ auf Führungsebene zusammenhängen sollen.
Direkter, wenn auch gleichermaßen abstrus, gestaltet sich die Beweisführung an anderen Stellen. So wird „nachgewiesen“, dass Max Zirngast an der Gestaltung und Durchführung von Bildungskursen für Kinder beteiligt war. Auch das ist wohl schwerlich eine Straftat. Deshalb wird wieder ohne jegliche Beweise behauptet: Diese Tätigkeit diene dem Zweck, Kader für die „bewaffnete illegale Terrororganisation“ zu gewinnen. Man fragt sich: Die Rekrutierung von fünf-, sechs- vielleicht siebenjährigen Kindern für den „illegalen, bewaffneten“ Kampf – glaubt der Staatsanwalt wirklich daran? Gibt es irgendeinen Beweis dafür, dass in der Türkei überhaupt je irgendwelche Organisationen außer dem IS diese Methode gewählt haben?
Nächstes Beispiel: Es wird ausführlich „nachgewiesen“, dass Max Zirngast bei der Organisation eines alternativen Kulturzentrums in Ankara, Serüven Kültür, aktiv war, in dem auch TÖPG-Mitglieder mitgewirkt haben. Max Zirngast soll dabei die Leitung des Philosophie-Kurses übernommen haben. Daran ist nichts geheim, der Name von Max Zirngast tauchte offen bei Veranstaltungsbewerbungen auf. Laut seinen eigenen Angaben habe Max Zirngast hier vor allem die Philosophie der griechischen Antike vermittelt. Nun der argumentative Trick der Anklage: Die Philosophiekurse dienten dazu, die Weltanschauung der beteiligten Personen zu verändern, um sie für die politische Arbeit der „bewaffneten illegalen Terrororganisation TKP/K“ als Kader zu gewinnen. Nur in einem sind wir hier mit der Anklage einer Meinung: Die Philosophie ist zurecht die Königsdisziplin unter den Wissenschaften. Aber eine bewaffnete illegale Terrororganisation von bis an die Zähne bewaffneten Platonikern und Stoikerinnen, das ist auch uns bisher nicht untergekommen.
Nicht zuletzt werden ausführlich einige Geldbeträge, die Max Zirngast an Freund*innen (unter anderem, aber nicht nur, an den Mitangeklagten Mithatcan Türetken) überwiesen hatte, als Beweise für die Finanzierung der genannten Terrororganisation angeführt. Die aufgeführten Beträge belaufen sich im Ganzen auf umgerechnet 600 bis 700 €. Davon abgesehen, dass uns nicht klar ist, was eine „bewaffnete illegale Terrororganisation“ mit so wenig Geld anfangen sollte, bleibt hier die zentrale Frage wie bei allem anderen in der Anklageschrift offen: Was haben Geldüberweisungen an Freund*innenmit „Terror“ zu tun? Der Staatsanwalt liefert keinen einzigen Beweis dafür, dass die privaten Gelder, die Max Zirngast überwiesen hat, zur Finanzierung von „Terrorismus“ dienten oder überhaupt einer Organisation zuflossen. Außerdem hat der Staatsanwalt wohl seine eigene Anklageschrift nicht genau gelesen: Ganz am Anfang und nochmals ganz am Schluss wird da über die „TKP/K“ gesagt, dass die Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen nicht reichen würden, weswegen Raubüberfälle als eine der bevorzugten Methoden der Finanzierung dienten. Dafür wird natürlich erneut kein einziges Indiz oder auch nur ein einziger konkreter Vorfall genannt. Geschweige denn, dass irgendwelche Indizien für solche Taten seitens Max Zirngasts vorgelegt würden.
Verkehrte Logik
Zusammengefasst legt der Staatsanwalt in den ganzen 123 Seiten seiner Anklageschrift kein einziges Beweismittel für eine mögliche Mitgliedschaft von Max Zirngast bei einer „illegalen bewaffneten Terrororganisation“ vor – geschweige denn solche, die beweisen könnten, dass es genannte Terrororganisation überhaupt (noch?) gibt und welche konkreten Aktionen sie durchführt.
Letztlich spricht der Staatsanwalt selbst mehr als einmal die verkehrte Logik seiner Anschuldigungen offen aus. Im einleitenden ersten Teil der Anklageschrift heißt es zum Beispiel: „Nicht immer lassen sich organische Beziehungen von Personen, die Verhältnisse zu bewaffneten Terrororganisationen führen oder ihnen helfen, mit Beweisen darlegen.“ Oder ein paar Zeilen später: „Wofern keine Handlung im Namen einer Organisation stattfindet, ist es schwierig, eine Mitgliedschaft nachzuweisen.“ Auf Deutsch: Wenn es keine Beweise für eine Beziehung gibt, ist es schwierig, diese Beziehung mit Beweisen nachzuweisen. Welch tiefschürfende Logik.
Im Schlussteil wird die Anklageschrift noch expliziter: Es wird festgehalten, dass ein zentrales Element, das Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Organisation ausmacht, namentlich „Methoden und Taten, die Gewalt, Zwang oder Drohung beinhalten, bei den Angeklagten nicht vorgefunden werden konnten“. Und weiter wird festgehalten, dass eine Untersuchung der Bankkonten aller Beschuldigten „keine tatverdächtigen Elemente im Sinne der Anklage“ auffinden konnte. Sprich, es können keine „bewaffneten“ oder allein auch nur bedrohlichen Handlungen, noch Tätigkeiten zur Finanzierung einer „bewaffneten illegalen Terrororganisation“ festgestellt werden. Die Willkür und Abseitigkeit dieser Vorwürfe wird, so meint man zunächst, nur noch durch die in die Anklageschrift mit aufgenommene Feststellung gesteigert, dass es keinerlei Einträge zu Max Zirngast im Archiv des sogenannten Nationalen Informationsnetzwerks der türkischen Justizbehörden (UYAP) gäbe. Dort werden alle Akten auch von schon abgeschlossenen Verfahren abgespeichert. Fast immer, wenn die türkischen Sicherheitskräfte einen „Terroristen ausschalten“, taucht die Notiz „es wird noch auf die UYAP-Akten gewartet“ in der betreffenden Stelle der „Liste der Terroristen“ auf. Sprich es wird dann auf eine Bestätigung der Identität und des Strafregisters des betreffenden „Terroristen“ gewartet, um den „Fall abzuschließen“. Im Fall von Max Zirngast hingegen soll jemand der Hauptstadtverantwortliche einer seit über 20 Jahren existierenden „bewaffneten illegalen Terrororganisation“ sein, ohne dass bisher eine einzige Akte zu ihm vorliegt in diesem zentralen Archiv.
Aber der Gipfel der Absurdität ist damit noch nicht erreicht. Denn zum Schluss werden die angeblichen Tätigkeiten der Angeklagten vom Staatsanwalt sogar gelobt, ja es wird sogar dazu geraten, diese staatlich zu unterstützen. Die betreffende Passage liest sich in unserer Übersetzung so:
„Wie sehr auch behauptet wird, dass die Angeklagten in so derart menschlichen und notwendigen Angelegenheiten wie Frauenrechte, Kinderrechte, Kinderbildung und anderen aktiv sind, ist offensichtlich, dass diese Tätigkeiten nicht rechtswidrig sind, im Gegenteil menschlich sind und eine Gewissenspflicht darstellen sowie von anderen Menschen und seitens des Staates unterstützt und anerkannt werden sollten.“
Nun stutzt man wohl gehörig: Alles, was die Angeklagten getan haben sollen, wird für unterstützenswert befunden! Nicht zuletzt wird damit klar, wie sehr die gesamte Anklage an den Haaren herbeigezogen ist und dass nichts von dem, was an „Beweisen“ aufgelistet wurde, irgendeinen Straftatbestand begründen könnte. Und weil es eben keinen einzigen Beweis für eine organische Beziehung von Max Zirngast (und den anderen Beschuldigten) zu einer „bewaffneten illegalen Terrororganisation“ namens „TKP/K“, ja in der gesamten Anklageschrift nicht einmal für die Existenz und die „terroristische“ Natur der genannten Organisation gibt – muss der Staatsanwalt auf Suggestionen, Behauptungen, konstruierte Zusammenhänge zurückgreifen, um die Anklage noch irgendwie dahingehend zu verrenken, dass eine organisierte Aktion, Propaganda und Gewinnung von Mitgliedern im Sinne der „illegalen bewaffneten Terrororganisation“ behauptet werden kann.
Der Spuk muss ein Ende haben
Max Zirngast, das geht aus der Anklageschrift deutlich hervor, werden seine aktivistischen, seine journalistischen und sogar seine wissenschaftlichen Tätigkeiten zur Last gelegt. Da nichts davon eine Straftat darstellt, muss ein tönernes Konstrukt einer „Tätigkeit auf führender Ebene für eine bewaffnete illegale Terrororganisation“ bedient werden. Diese Form des Umgangs mit journalistischer, wissenschaftlicher, zivilgesellschaftlicher und politischer Opposition oder allein Dissidenz egal welchen politischen Lagers, ist zunehmend zur Normalität in der Türkei der letzten Jahre geworden. Hier zeigt sich kondensiert und mit schlagender Deutlichkeit der zunehmend diktatoriale Charakter des derzeitigen Regimes in der Türkei. Aber noch gibt es Opposition, Widerstand – und Solidarität. Max Zirngast ist einer von sehr vielen, die vom derzeitigen Regime in der Türkei allein für ihre kritische Haltung belangt werden.
Wir verlangen die sofortige Aufhebung aller Auflagen, die über Max Zirngast verhängt wurden sowie die Einstellung des Verfahrens gegen ihn inklusive eines vollständigen Freispruches in allen Anklagepunkten. Zudem sind wir der Überzeugung, dass dieses Phantom einer Anklage nun auch bei jenen die letzten Zweifel beseitigen muss, die bislang noch auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren gehofft haben. Hier ist nicht die Hoffnung auf Rechtsstaatlichkeit, sondern allein resolutes solidarisches Engagement auf allen politischen, zivilgesellschaftlichen, medialen und diplomatischen Wegen angebracht.
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