23. Dezember 2024

Ein Krieg für die Kommunalwahlen

Der Journalist Fehim Taştekin über die Hintergründe einer drohenden türkischen Intervention in Nordsyrien und die Mittelostpolitik der USA, 17.12.2018

Die Absicht der Türkei in die nordsyrischen Gebiete östlich des Euphrats ein zu marschieren hat in den letzten Monaten immer konkretere Formen angenommen. Von der Drohung Erdogans kurz vor der Afrin-Operation im Januar 2018, man werde ‚eines Nachts ohne Vorwarnung‘ einmarschieren, über die einige Wochen alte Aussage, man habe alle Vorbereitungen für eine Operation abgeschlossen bis zu den Aussagen Erdogans vor einigen Tagen: „Wir werden in einigen Tagen mit der Operation beginnen.“ Die militärische Situation in der Region und die großen Risiken, die mit einem Einmarsch in Nordsyrien einhergehen, verdeutlichen eines ganz klar: Ohne eine Zustimmung der USA, die derzeit noch mit der YPG gegen den Islamischen Staat (IS) kämpft, ist ein türkischer Einmarsch in Nordsyrien unmöglich. Soweit zu einer sachlichen Betrachtungsweise der Situation. Doch wir befinden uns nicht Zeiten, in denen ‚normal‘ oder sachlich geurteilt und entschieden wird. In der türkischen Öffentlichkeit wird derzeit verkündet: ‚Genauso wie wir in Cerablus und Afrin einmarschiert sind, werden wir auch östlich des Euphrats intervenieren.‘

Als türkische Truppen im August 2016 in der nordsyrischen Region zwischen Cerablus, Çobanbey und El Bab einmarschierten, um der YPG den Weg zwischen Kobane und Afrin zu versperren, äußerte die USA keinerlei Einwände. Auch Russland gab damals grünes Licht. Im Rahmen der Astana-Verhandlungen hatte sich ein Bündnis zwischen Russland und der Türkei herausgebildet, das Russland zu einer Zustimmung zur Afrin-Operation bewog. Die türkische Intervention in Afrin machte ein sehr einfacher Umstand möglich: die Öffnung des Luftraums durch Russland. Die USA verkündete, man fühle sich nur den Regionen gegenüber verantwortlich, die gemeinsam mit den kurdischen Kräften vom IS befreit worden waren. Eine klare Haltung gegen die türkischen Angriffe in Afrin verweigerte die USA damit.

Stetiger Druck durch ständige Drohungen

Seit geraumer Zeit unternimmt Erdogan Schritte, um den Druck auf die USA zu erhöhen. Der steigende Druck dient beiden Seiten. Spannungen sind das größte Kapital der derzeitigen Epoche. Ausschlaggebend für die Absicht der Türkei, in ein Nachbarland ein zu marschieren, sind die innenpolitische Dynamik des Landes und der Versuch der Machthabenden ihre eigene Position zu stärken. Die Opposition in der Türkei wird sich ähnlich wie während der türkischen Intervention in Afrin Anfang des Jahres hinter die ‚nationale Sache‘ stellen und den Angriff auf die Selbstverwaltung in Nordsyrien unterstützen. Diese war in den vergangenen Jahren unter Führung der Kurdinnen und Kurden aufgebaut worden. Auch die politische Agenda der nächsten Monate in der Türkei wird wohl von den türkischen Kriegsdrohungen gegen Nordsyrien dominiert werden. Mithilfe einer Stimmung des Ausnahmezustands und nationalistischer Propaganda beabsichtigen die Mächtigen in der Türkei die anstehenden Kommunalwahlen im März 2019 für sich zu entscheiden. Darin besteht ihr derzeit wichtigstes Ziel. Seit 2015 werden die Wahlen in der Türkei bedauerlicherweise nur noch durch Krieg und Schießpulver entschieden.

Hinzu kommt, dass sich die Türkei insbesondere gegenüber der USA in einer vielversprechenden Verhandlungsposition befindet und ihren Bewegungsfreiraum zuletzt erweitern konnte. Dies gelang ihr indem sie den Kauf des russischen Luftabwehrsystem S-400 forcierte und mithilfe der staatlichen Halkbank die Iran-Sanktionen umging bzw. dies bis heute tut. Erdogan gelingt es zusätzlich, die USA vor die Wahl zwischen ‚einen NATO-Partner oder einer Terrororganisation‘ zu stellen und sie zu einer Entscheidung zu zwingen. Die USA reagiert darauf mit einer Besänftigungspolitik. Die Vereinbarung zwischen der USA und der Türkei, im nordsyrischen Minbic gemeinsame Patrouillen durchzuführen, ist ein Teil dieser Besänftigungsabsichten der USA. Erdogan versucht in dieser Situation aus der Erklärung Trumps, man werde den IS innerhalb der nächsten 30 Tage vollständig zerschlagen, Profit zu schlagen. Er möchte die USA dazu verpflichten ihre Beziehungen zur YPG zu beenden, sobald der Kampf gegen den IS abgeschlossen ist.

Es ist schwer aus den jüngsten Worten Trumps abzuleiten, die USA wolle sich aus Syrien zurückziehen. Mit ihrer militärische Präsenz in Syrien verfolgt die USA drei Ziele: Kampf gegen den IS, Zurückdrängung des Irans in der Region und Einfluss auf den politischen Übergangsprozess in Syrien. Es geht also um langfristige Pläne. Der US-Generalstabschef Joseph Dunford sprach am 6. Dezember davon, man werde in Syrien eine 40.000-köpfige militärische Einheit ausbilden. Bisher seien erst 20% des Ausbildungsprogramms erreicht. Bereits im Januar diesen Jahres und damit kurz vor Beginn des türkischen Einmarsches in Afrin hatte die USA erklärt, man werde eine Armee mit 30.000 Mitgliedern vor Ort ausbilden.

Eine begrenzte Militäroperation?

Erdogan ist nun soweit gegangen, praktisch ein Datum für die anstehende Intervention in Nordsyrien zu nennen. Wird die USA nun entsprechend ihrer Besänftigungspolitik der Türkei grünes Licht für eine räumlich begrenzte Operation geben? Niemand kann definitiv sagen, ob es soweit kommen wird oder nicht. Kurdische Quellen, mit denen ich sprechen konnte, äußerten alle ihre Besorgnis. Sie gehen von einer begrenzten Militäroperation aus. Im Fälle einer begrenzten Intervention kommen wohl eher Gebiete in Frage, die mehrheitlich von arabischer Bevölkerung bzw. zu gleichen Teilen von einer arabisch-kurdischen Bevölkerung geprägt sind. Städte wie Kobane, die als ‚kurdische Festungen‘ gelten, gelten als unwahrscheinliche Ziele. Die Regionen um die Städte Tel Ebyad (Girê Spî) und Ras el Ayn (Serekaniye) wären dementsprechend wahrscheinliche Angriffspunkte. Im Verlauf der vergangenen Monate wurde in türkischen Medien wiederholt von Angriffsplänen in diesen Gebieten berichtet. Mit beiden Städten hat Erdogan noch eine Rechnung offen.

In der Stadt Serekaniye gelang es der YPG zwischen Juli 2012 und Februar 2013 mehrere Angriffswellen islamistischer Gruppen abzuwehren, die unter dem Banner der ‚Freien Syrischen Armee‘ von der Türkei aus versuchten ein zu marschieren. Tel Ebyad lag auf der Hauptversorgungslinie, mit deren Hilfe der IS von der Türkei aus in den Jahren 2014 und 2015 versorgt wurde. Nachdem die YPG gemeinsam mit ihren arabischen Partnern die Stadt im Sommer 2015 befreit hatte, behauptete Erdogan, dort würden ethnische Säuberungen gegen die arabische und turkmenische Bevölkerung stattfinden. Wenn man in der Türkei in den vergangenen Monaten über eine mögliche Intervention in Nordsyrien sprach, wurde stets die arabische Identität dieser beiden Städte in den Vordergrund gerückt. Hinzu kommen türkische Pläne, einen Teil der Geflüchteten, die derzeit in der Türkei leben, in die beiden Regionen zu schicken. Dahinter steht die Absicht, mithilfe einer Ansiedlung arabischer Bevölkerung entlang der syrisch-türkischen Grenze den Anteil der als Bedrohung wahrgenommenen kurdischer Bevölkerung zu minimieren.

Was wird die USA tun?

Ob es grünes Licht für die türkische Intervention geben wird oder nicht, ist derzeit nicht eindeutig vorherzusagen. Der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan, flog in der letzten Woche zu Gesprächen nach Washington. Auch der US-Sondergesandte für Syrien, James Jeffrey, reiste am 7. Dezember nach Ankara. Zweifellos waren die Gebiete östlich des Euphrats das dominierende Thema der Gespräche. Jeffrey reiste nach einem Besuch in einem militärischen Ausbildungslager in Gaziantep weiter nach Syrien. Ob sich die Haltung der USA im Rahmen dieser Gespräche geändert hat, wissen wir nicht. Dennoch ist Einiges über die amerikanische Position bekannt: Dass die USA unter normalen Bedingungen gegen eine türkische Intervention in Nordsyrien ist, stellte sie unter Beweis, als sie vor wenigen Wochen zwölf Beobachtungsposten entlang der syrisch-türkischen Grenze errichtete. Damit reagierte sie auf die Artillerieangriffe der Türkei in Tel Ebyad, Kobane und Zor Muğar im November diesen Jahres. Die USA erklärte zudem, die türkischen Angriffe würden dem Kampf gegen den IS in der nordostsyrischen Region Deir ez-Zor schaden. Damit machte sie deutlich, dass die Türkei in Zukunft für ein Wiedererstarken des IS verantwortlich gemacht werden könnte. Die US-Militärpräsenz in Syrien steht auch in direktem Zusammenhang mit dem Ziel, den iranischen Einfluss in der Region zurück zu drängen. Sollte der Erfolg der iranfeindlichen US-Politik ausbleiben, könnte die USA die Türkei die Rechnung dafür zahlen lassen.

In der Vergangenheit war es bereits zu ähnlichen Spannung zwischen der Türkei und der USA gekommen. Als Reaktion auf türkische Luftangriffe auf das Medienzentrum der YPG im nordsyrischen Karaçok im vergangenen Jahr hatte die USA im Rahmen von Grenzpatrouillen entlang der türkisch-syrischen Grenze offen Flagge gezeigt. Doch zu tiefgreifenden Veränderungen in den Beziehungen der USA und der Türkei kam es nicht. Doch im Unterschied zu den damaligen Angriffen geht es im aktuellen Fall um eine Bodenoffensive. Als Reaktion auf die jüngsten türkischen Angriffe auf Nordsyrien erklärte die USA, die Einrichtung der Beobachtungsposten entlang der syrisch-türkischen Grenze sei abgeschlossen. Sie wiederholte damit letztendlich Stellungnahmen, die sie in der Vergangenheit bereits getätigt hatte.

Kurdische Quellen berichteten mir, bereits bestehende Stellungen entlang der Grenze seien zu Beobachtungsposten ausgebaut worden, in denen sich neben amerikanischen und französischen Soldaten auch Kräfte der YPG befänden. In der Trump-Administration dominieren die Stimmen, die sich für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der YPG im Rahmen der US-Syrienpolitik einsetzen. Nun bestehen einige offene Fragen, deren Beantwortung drängt: Wird Trump sich gegen das Pentagon positionieren und Entscheidungen im Interesse der Türkei fällen? Wird die Türkei auch ohne das Einverständnis der USA und trotz der Präsenz amerikanischer und französischer Soldaten eine Bodenoperation wagen? Ist ein Land wie die Türkei, das schon durch einen Streit um einen amerikanischen Priester an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs gedrängt wurde, bereit, eine neue und ernstere Konfrontation mit der USA zu riskieren? Oder steht hinter den Drohungen gegen die Gebiete östlich des Euphrats die Absicht, sich Minbic einzuverleiben? Wird die USA Erdogan die Möglichkeit geben, durch die Einnahme Minbics der türkischen Öffentlichkeit einen zweiten ‚Afrin-Erfolg‘ zu verkaufen, um eine Operation östlich des Euphrats zu verhindern? In welche Richtung die Dinge letztendlich gehen werden, ist derzeit schwer abzuschätzen. Trotz der schwerwiegenden Drohung eines neuen Krieges fällt es einem unbeschreiblich schwer, die nächsten Entwicklungen vorherzusagen. Es ist nicht möglich zu sagen, ob die türkische Bevölkerung wieder unter der Losung ‚Wir werden eines Nachts ohne Vorwarnung losschlagen‘ in ein neues Abenteuer gestürzt wird.

Im Original erschien der Artikel am 13.12.2018 unter dem Titel “Fırat seferine ayarlı sandıklar!” auf der Homepage des Nachrichtenportals Gazete Duvar.

Quelle:

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.

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