26. Dezember 2024

Unseren Willen zu Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit jedem kundtun

Hatip Dicle, kurdischer Politiker im deutschen Exil, über  die Kommunalwahlen in der Türkei und Nordkurdistan sowie die HDP, 19.01.2019

In der Türkei und in Nordkurdistan stehen am 31. März 2019 die Kommunalwahlen an. Dass auch diese Wahlen – wie schon das Referendum vom 16. April 2017 und die Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 – nicht unter freien und gleichberechtigten Bedingungen ablaufen werden, ist heute schon absehbar. Die Türkei unter dem Ein-Mann-Regime von Erdoğan hat sich unlängst von der Gewaltenteilung verabschiedet.

Nicht dass die Türkei zuvor eine Musterdemokratie mit einer unabhängigen Justiz gewesen war. Doch mit Erdoğan ist in der Türkei auch der letzte Schein eines Rechtsstaates erloschen. Wer unter diesen Umständen tatsächlich freie Wahlen in der Türkei erwartet, hat jedenfalls eine falsche politische Analyse des Ist-Zustands betrieben. Oder anders gesagt, in einer faschistischen Diktatur Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit zu erhoffen, ist nichts anderes als Naivität. Aus diesem Grund können wir das Resümee meines Textes auch vorziehen und gleich festhalten: Der Wahlgang Ende März wird eine reine Formalität darstellen. Am Ende wird der faschistische Block aus AKP-MHP-Ergenekon durch die Unterdrückung der Opposition und mit Hilfe von allerlei Manipulationen einen »Wahlsieg« verkünden.

Die Basis für meine Prognose bot Erdoğan schon vor den Parlamentswahlen im Juni 2018. Damals lud er seine Hofjournalist*innen zu einem einstündigen Briefing ein. An alle Journalist*innen der AKP-treuen Blätter, die noch letzte Zweifel am Wahlsieg Erdoğans hatten, appellierte er mit folgenden Worten: »Habt keine Zweifel an meinem Wahlsieg. Denn der ›Reis‹ (dt. Führer; so wird Erdoğan von seinen Sympathisant*innen angesprochen) lässt keine Wahlen veranstalten, bei denen er nicht selbst gewinnt.«

In der Türkei lastet gegenwärtig ein enormer Druck auf der Bevölkerung, die gesellschaftliche Opposition wird der Vernichtung preisgegeben. Dass die Bedingungen in Nordkurdistan die Situation im Westen der Türkei verblassen lassen, ist offensichtlich. Und nun sollen unter diesen gesellschaftlichen Umständen Kommunalwahlen abgehalten werden. In Nordkurdistan sind übrigens die bei den vergangenen Kommunalwahlen rechtmäßig gewählten Ko-Bürgermeister*innen der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) abgesetzt worden, viele von ihnen befinden sich aktuell in Haft. Ihre Stellen sind von Treuhändern, die von der AKP und den Gouverneuren bestimmt wurden, eingenommen worden. Betroffen hiervon sind die Provinzverwaltungen von Amed, Wan, Mêrdîn, Colêmerg, Sêrt, Bêdlîs, Dersim und Agirî. Der politische Einfluss der HDP hatte sich auf den größten Teil Nordkurdistans ausgeweitet. Heute befinden sich allerdings die Ko-Bürgermeister*innen, die Mitglieder der Stadträte und viele Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltungen in Haft. Sie alle werden als politische Geiseln des Regimes gehalten. Diese nahezu täglichen Festnahmewellen brechen nicht ab, bis zu den Kommunalwahlen werden sie wohl eher noch zunehmen. Sollte es der HDP auch unter diesen Umständen gelingen, Wahlsiege bei den Kommunalwahlen einzufahren, dann hat Erdoğan bereits angekündigt, was geschehen wird: Die gewählten Ko-Bürgermeister*innen werden dann erneut abgesetzt und durch Treuhänder ersetzt.

Die Zustände in den Stadtverwaltungen, die von den Treuhändern geleitet werden, sind miserabel. Der Haushalt der Stadtverwaltungen wurde mittlerweile an das Staatspräsidialamt angebunden. Monatlich holen die Treuhänder dort das Einverständnis für ihre Ein- und Ausgaben ab. Das hindert sie natürlich nicht, die Stadtverwaltungen Nordkurdistans zu überschulden. Vielmehr scheint das die Vorgabe von oben zu sein. Ebenso wie die Privatisierung von Gebäuden und Nutzflächen, die unter dem Besitz der Stadtverwaltungen standen und nun unter AKP-Funktionär*innen verscherbelt werden. In denjenigen Orten, in denen die HDP die Stadtverwaltungen von der AKP zurückerobern sollte, wird sie in jedem Fall vor einem Schutthaufen stehen und bei Null anfangen müssen.
Das gilt in dem Fall auch für den Wiederaufbau der Fraueneinrichtungen in den jeweiligen Orten. Diese wurde ebenso von den Treuhändern gnadenlos dichtgemacht, wie auch die kurdisch- oder mehrsprachigen Schilder, die in den kurdischen Städten allgegenwärtig waren, durch die Treuhänder allesamt abgehängt worden sind. Die AKP-Männer haben also nicht nur der kurdischen Bevölkerung ganz offen zur Schau gestellt, was sie von ihrer Kultur und ihrer Sprache halten, sondern sich selbst als Treuhänder zu den Handlangern des Besatzungsregimes in Nordkurdistan gemacht.

Vor dem Hintergrund dieses Ist-Zustands stellt sich bei vielen berechtigterweise folgende Frage: Warum nimmt die HDP an diesen Wahlen überhaupt teil? Warum boykottiert sie nicht die Kommunalwahlen, die doch ohnehin bedeutungslos erscheinen?

Zunächst einmal sollten wir uns vor Augen führen, dass die kurdische Bevölkerung auch bei den Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 trotz allen Betrugs und aller Manipulationen ihren freien Willen an der Wahlurne allen gezeigt hat. Sie hat zugleich dem faschistischen AKP-MHP-Ergenekon-Block deutlich gemacht, dass sie allen Repressionen und aller staatlichen Gewalt zum Trotz nicht einknickt und sich nicht einschüchtern lässt. Und auch bei den anstehenden Wahlen sind Kurd*innen bereit, ihre Haltung nochmals unter Beweis zu stellen.

Die Haltung der kurdischen Bevölkerung lässt sich in etwa wie folgt wiedergeben: »Auch wenn sie zwei Tage nach den Kommunalwahlen unsere gewählten Ko-Bürgermeister*innen wieder absetzen sollten, werden wir am Wahltag unseren freien politischen Willen dem Staat und der Öffentlichkeit unter Beweis stellen. Die Faschisten mögen eben das machen, was zu ihrer Einstellung passt. Wir hingegen werden unseren Willen zu Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit abermals jedem kundtun.«

Das ist ein bedeutendes Manifest im Kampf gegen den Faschismus in der Türkei. Die Wut der kurdischen Bevölkerung gegen ihre Besatzer, gegen die Machthaber in Ankara, wird sich in den Wahlergebnissen widerspiegeln. Aus diesem Grund ist der Urnengang bei den Kommunalwahlen von großer Wichtigkeit und muss unterstützt werden.

Bei den Wahlen im kommenden März wird es deshalb auch nicht bloß darum gehen, welcher Bürgermeisterkandidat und welche Bürgermeisterkandidatin in welchem Ort die meisten Stimmen erhalten wird. Es wird auch darum gehen, ob die Vertreter der staatlichen Geisteshaltung, die dem Faschismus in der Türkei den Weg bereitet haben und nun die Völker versklaven und sie somit dazu zwingen wollen, vor dieser Staatlichkeit niederzuknien, in ihrem Vorhaben erfolgreich sein werden. Eine solche Geisteshaltung bekämpft nicht nur die Gerechtigkeit und die Rechtstaatlichkeit, sie will auch die Demokratie völlig aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschen verbannen. Die Diktatur, mit der wir es in der Türkei derzeit zu tun haben, bewegt sich eben genau in diese Richtung. Die Gesellschaft und jedes Individuum sollen ihrer Fähigkeit zur legitimen Selbstverteidigung beraubt werden und zu einer Schafherde im Dienste des Staates und seiner Machthaber verkommen. Diese Geisteshaltung und dieses Vorhaben lehnen wir radikal ab. Wir müssen uns immer und überall gegen sie stellen. Und auch die Wahlurnen sind eine Möglichkeit, unseren Standpunkt gegen die staatliche Mentalität unter Beweis zu stellen.

Die HDP ist gewissermaßen die Antithese zur staatlichen Geisteshaltung. Sie verteidigt die Demokratie und die Freiheit. Sie setzt sich dafür ein, dass die Gesellschaft sich basisdemokratisch selbst verwaltet. Auf diese Weise sollen auch die Stadtverwaltungen, in denen die HDP die Mehrheit erringt, mit der Partizipation der lokalen Bevölkerung verwaltet werden. Wenn die Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung gegenüber der Zentralmacht in Ankara nicht gestärkt werden und ihre Unabhängigkeit erlangen, kann ohnehin nicht von einer Demokratie gesprochen werden. Von der kleinsten gesellschaftlichen Gruppe bis hin zur demokratischen Nation muss jeder sich selbst verwalten können; alle ethnischen und religiösen Gemeinschaften müssen sich in ihrer Verschiedenheit selbst repräsentieren können und dem Konzept des demokratischen Konföderalismus folgend muss die gesamte Gesellschaft von der Basis bis hin zur Spitze sich selbst organisieren können.
Letztlich ist das auch die Zielvorgabe der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrer strategischen Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan. Das ist auch der Kern der demokratischen Autonomie. Und so werden auch wir unseren Kampf für die Schaffung einer freien Gesellschaft ohne Unterbrechung fortsetzen.

Für eine Welt ohne Ausbeutung, ohne Kriege und ohne Grenzen werden wir uns der faschistischen Mentalität, die den Staat zu einem Heiligtum erklärt, überall und in allen Lebensbereichen entgegenstellen. Wir werden hierfür keinen Kampf scheuen und in jedem Fall erfolgreich sein. Als HDP werden wir gemeinsam mit unseren Freund*innen unseren Widerstand fortsetzen. In Nordkurdistan werden wir die Zahl unserer Stadtverwaltungen weiter vergrößern. In den westlichen Metropolen hingegen werden wir uns überall dem faschistischen AKP-MHP-Ergenekon-Block entgegenstellen und die Bündnisse mit demokratischen Parteien suchen. In diesem Geiste werden wir uns auf die Wahlen vorbereiten. Gemeinsam mit unseren Völkern wird unser Kampf gewiss von Erfolg gekrönt werden.

Im Original erschien der Artikel im Kurdistan Report – Januar/Februar 2019.


Hatip Dicle: Kurdischer Politiker, der seit vielen Jahren in verschiedenen Positionen aktiv ist. Zuletzt war er seit 2014 Ko-Vorsitzender der Dachorganisation aller Rätestrukturen in Nordkurdistan DTK (Demokratischer Gesellschaftskongress). Während der Friedensverhandlungen zwischen Abdullah Öcalan und dem türkischen Staat 2013 bis 2015 war er Teil der Imrali-Delegation, die Öcalan mehrfach im Gefängnis besuchte.

Quelle:

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.

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