Kolumbien vor neuem Krieg
Als der ehemalige kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos im Jahr 2016 die seit 2012 währenden Friedensverhandlungen mit der marxistischen Guerilla Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo, kurz FARC-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee) erfolgreich abschloss und diese sich schließlich 2017 demobilisierte, waren die Erwartungen groß. Die Friedensverträge von Havanna verpflichteten die Regierung faktisch dazu, einen modernen, demokratischen Nationalstaat mit umfangreichen Sozialsystemen aufzubauen. Eine gigantische Herausforderung für eines der sozial ungleichsten Länder der Erde.
Wirtschaftlich wäre es auf ein keynesianisches Investitionsmodell, insbesondere in den ruralen Regionen, hinausgelaufen. Die Jurisdicción Especial para la Paz, kurz JEP (Sonderjustiz für den Frieden), die seit 2016 eingerichtet wurde, hätte eine sukzessive Aufarbeitung paramilitärischer, mit dem Staat verbundener Morde und Massaker bedeutet. Schließlich hätte die Substitution des Koka-Anbaus durch nachhaltige Agrarwirtschaft und die Neuverteilung von Land über den eigens dafür geschaffenen Fond dem andauernden Drogenkrieg das Fundament entzogen. Kurz: Eine Umsetzung der Verträge von Havanna hätte ein Fundament für einen dauerhaften Frieden darstellen können. Ihnen lag eine Definition von Frieden zu Grunde, die diesen nicht alleine als Zustand der Abwesenheit von physischer Gewalt begriff, sondern vor allem auch die Lösung der sozialen Ursachen des bewaffneten Konflikts in der politischen und ökonomischen Machtstruktur ins Visier nahm. Das alles hätte jedoch einen Bruch mit dem neokolonialen und militaristischen Bürgerkriegsmodell bedeutet, das aus einem exklusiven Staatsapparat besteht, in dem linke und linksliberale Stimmen marginalisiert und mit paramilitärischem Terror überzogen wurden und werden. Das ist offensichtlich nicht gewollt. Spätestens seit dem Amtsantritt Iván Duques als Präsident im August 2018 wird nichts unversucht gelassen, um Bestimmung für Bestimmung zu revidieren, damit der Friedensprozess und mit ihm die politische Linke des Landes beerdigt werden kann.
Der erste Schlag gegen den Frieden geschah bereits, bevor das Abkommen offiziell unterzeichnet worden war. Mit einer Volksabstimmung sollte die Bevölkerung über die Annahme der Friedensverträge von Havanna entscheiden. Diese Abstimmung durchzuführen war ein explizites Anliegen der Regierungsseite und mitnichten der Guerilla, die nur zu gut weiß, dass die Kräfteverhältnisse in den bevölkerungsreichen Zentren des Landes, den Cordilleras, nicht zu ihren Gunsten stehen. Eine Mischung aus historischem Antikommunismus und rechter Medienmacht, erfolgreichen, hetzerischen Mobilisierungen der Rechten, ebenso wie eine nicht mehr vorhandene Präsenz beziehungsweise Einfluss der Guerilla in den großen Städten des Landes, sowie eine weit verbreitete politische Apathie (Wahlbeteiligung: 37,43%) im Land, führten schließlich zu einer knappen Ablehnung der Friedensverträge im Oktober 2016. In den darauf folgenden Wochen, in denen das Vertragswerk überarbeitet wurde, wurden bereits zentrale Revisionen vorgenommen. Dabei wurde unter anderem die Unantastbarkeit des Privateigentums an Land festgeschrieben, was die vorgesehene Umverteilung der in Großgrundbesitzerhänden befindlichen Ländereien an Opfer des bewaffneten Konflikts und/oder Kleinbäuer*innen nachhaltig unterminierte.
Zweifellos einer der ausschlaggebendsten Vorfälle und gleichzeitig exemplarisch war die noch von Juan Manuel Santos veranlasste Verhaftung des FARC-Führers und Chefideologen der alten Guerilla Jesús Santrich am 9. April 2018 in dessen Haus in Bogota. Santrich wurde vom US-amerikanischen Dienst Drug Enforcement Administration, kurz DEA (Drogenvollzugsbehörde), vorgeworfen, mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell [1] nach der Zeichnung der Friedensverträge mit Kokain gehandelt zu haben. Da dieser Handel nach der Zeichnung der Verträge erfolgt sein soll, habe Santrich kein Recht auf eine Verhandlung des Falls vor der JEP, so seine Ankläger*innen. Die USA forderten daraufhin seine Auslieferung auf Basis der historischen Auslieferungsgesetzgebung der 1980er Jahre, die aber im Zuge der Implementierung der Körperschaft JEP ausgesetzt wurde – zumindest für solche Delikte während des bewaffneten Konflikts. Beweise gibt es, bis auf ein Telefonat und Bilder eines angeblichen Treffens, die beide von seinem ehemaligen Mitarbeiter Marlon Marín eingefädelt worden waren, keine. Marín ist interessanterweise zwischenzeitlich als Kronzeuge der DEA in den USA wieder aufgetaucht. Die Rechtsregierung unter Duque hält faktisch also einen Kongressabgeordneten (!) der Republik ohne Beweise fest und arbeitete an einer Auslieferung auf Basis einer Gesetzgebung, die für Fälle wie Santrich in den Friedensverträgen explizit ausgesetzt worden war. Zwischenzeitlich attackierte Duque die JEP auch auf dem parlamentarischen Weg, mit dem Ziel, diese de facto auszuhebeln. Das hätte eine reguläre Strafverfolgung aller Guerilleros/as in den Entwaffnungszonen bedeutet. Dieses Szenario wurde nun vorläufig vom Obersten Gerichtshof verhindert. Weiterhin wurde Santrich auf Weisung der JEP gegen den Willen der Staatsanwaltschaft vorläufig auf freien Fuß gesetzt.
Der Wahlsieg Iván Duques gegen seinen linken Herausforderer Gustavo Petro im vergangenen Jahr machte allen klar, dass die politischen Weichen in Richtung Scheitern des Friedensprozesses gestellt werden. Duque gab sich in seinem Wahlkampf nicht einmal die Mühe, seine Absichten zu verbergen und verkündete vor Anhänger*innen dann schon mal, dass er die Friedensverträge mit den FARC „zerreißen“ werde. Nach seinem Wahlsieg ließ er zwar verlautbaren, dass er nur noch „Änderungen“ an den Verträgen plane, jedoch merkte der liberale Politiker und ehemalige Chefunterhändler der Regierung Santos, Humberto de la Calle zu Recht an, dass es sich bei diesen angepeilten Veränderungen um eine „Änderung des Wesensgehalts der Verträge“ handele. Bei diesen Wahlen wurde auch deutlich, wie gravierend die Guerillabewegung an Einfluss in den politischen Zentren des Landes eingebüßt und wie stark ihre politische Isolation geworden war. Die nunmehr im November 2017 als legale Partei Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común – FARC (Alternative Revolutionäre Kraft des Volks) transformierte Ex-Guerilla konnte über ihre eigene Anhänger*innenschaft hinaus kaum Stimmen gewinnen. Aufgrund der Bestimmungen in den Friedensverträgen entsendete die neue Linkspartei dennoch fünf Kandidat*innen in Senat wie Abgeordnetenhaus, von denen allerdings nicht alle ihr Mandat aufnahmen.
Auch auf dem Feld der Aufarbeitung der sozialen Ursachen des bewaffneten Konflikts kam es zum umfassenden Rollback. Nahezu symbolisch für die einseitige Geschichtserzählung vom bewaffneten Konflikt steht die kürzliche Ernennung des Ultra-Rechten Darío Acevedo zum Leiter des Centro Nacional de Memoria Histórica, CNMH (Nationales Zentrum für Historisches Gedächtnis). Acevedo gehört zu jenen „Historikern“, die entgegen dem Forschungsstand zum bewaffneten Konflikt behaupten, dass diesem keine soziale Komponente zu Grunde liege, sondern es sich um einen „Kampf gegen den Terrorismus“ handele. In dieser Erzählung steht ein vermeintlich sauberer Staat einer mit Blut besudelten Guerilla gegenüber, die vollkommen abseits jeder politischen Intention die Bevölkerung mit Drogenhandel und Terror überzogen hätte – eine derzeit bis weit hinein in linke Intellektuellenkreise reichende Annahme.
Das Ansteigen der politischen Morde seit Zeichnung der Friedensverträge im Jahr 2016 ist dabei ein besonders düsteres Kapitel des gescheiterten Friedensprozesses. Ein kürzlich unter anderem durch die linke soziale Bewegung Marcha Patriótica und der NGO Instituto de estudios para el desarollo y la paz, INDEPAZ (Institut für Entwicklungs- und Friedensstudien) herausgegebener Bericht spricht von zwischenzeitlich 702 ermordeten Aktivist*innen und 135 ermordeten Ex-Kämpfer*innen der Guerilla seit Zeichnung der Friedensverträge im Jahr 2016. Mit jährlich steigender Tendenz. Gleichzeitig ging die Regierung nach wie vor bei sämtlichen Gelegenheiten mit massiver Gewalt und unter Inkaufnahme schwerster Verletzungen mit Todesfolge mit der Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD gegen soziale Proteste, etwa im Chocó, oder auch in der armen Pazifikstadt Buenaventura vor. Die kolumbianische Regierung ist dabei nicht nur als unfähig, sondern vor allem als unwillig zu bezeichnen, was die Bekämpfung des Problems des Paramilitarismus anbelangt. Öffentlich leugnete bereits die vergleichsweise liberale Regierung von Juan Manuel Santos die historischen wie aktuellen und hinreichend belegten Verbindungen zwischen kolumbianischem Staat und paramilitärischen Gruppen. Mit Iván Duque ist der politische Arm des Paramilitarismus wieder zu Amt und Würden gekommen. Die Haltung der derzeitigen Regierung zu dieser Frage hat kein Politiker besser auf den Punkt bringen können als Álvaro Uribe Velez, Ziehvater des jetzigen Präsidenten Iván Duque und Gründer der ersten paramilitärischen Gruppen, selbst. So schrieb dieser Ex-Präsident Kolumbiens kürzlich über seinen Twitter Account, dass „wenn eine ruhige Autorität, stark und mit sozialen Kriterien Massaker bedeutet, dann weil auf der Gegenseite mehr Gewalt und Terror herrscht als Protest“. Dieses, die Morde an Aktivist*innen legitimierenden Statement ging anschließend unter dem Hashtag #Masacreconcriteriosocial (#MassakermitsozialemKriterium) viral. Dazu passt dann auch, dass Iván Duque nichts zum Schutz der Menschen tut, aber stattdessen eine Sicherheitspolitik forciert, in der es erneut möglich wird, legale paramilitärische Gruppen zu gründen. In den 90er Jahren hatte Álvaro Uribe Velez bereits mit den CONVIVIR eine legale Form des Paramilitarismus in Form von privaten Bürgermilizen geschaffen, die Hand in Hand mit dem Staat gegen die Guerilla und andere Linke vorgingen, um dann später umstandslos in die Kontra-Guerilla der AUC überzugehen.
Bei nicht wenigen Aktivist*innen für den Friedensprozess war mit den Verträgen von Havanna die Hoffnung verbunden, dass ein dauerhafter Waffenstillstand mit der letzten verbliebenen relevanten Guerilla Ejército de Liberación Nacional, ELN (Nationales Befreiungsheer) folgen könnte und der aufgeblähte kolumbianische Militärapparat damit eingekürzt würde. Real ist auch hier das Gegenteil eingetreten. Hatte Juan Manuel Santos noch vergleichsweise erfolgreiche Friedensverhandlungen mit der ELN geführt, blockierte die Regierung Duque die Verhandlungen zunächst, um sodann die militärische Aggression gegen die letzte verbliebene linke Guerilla zu verstärken. Diese reagierte zu Anfang des Jahres 2019 mit einem Anschlag gegen eine Polizeiakademie in Bogota, was dann endgültig zum Vorwand genommen wurde, den fragilen Friedensprozess zu begraben. Mit diesem Manöver erhielt sich die Regierung Duque einen inneren Feind, um die Aufrechterhaltung der immensen Militärausgaben (drei bis vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes) und deren Erhöhung um drei Milliarden US-Dollar (2018) zu rechtfertigen. Bereits seit Santos gilt Kolumbien als „globaler Partner“ der NATO in Südamerika. Die USA nutzen darüber hinaus nach wie vor sieben Militärbasen auf kolumbianischem Territorium, insbesondere als Drohung gegen die Linksregierung in Venezuela. Kürzlich wurden in der New York Times fragwürdige Weisungen im kolumbianischen Militär öffentlich gemacht. Die Weisungen sehen Belohnungen von Tötungen von Guerilleros vor und Strafe bei Nicht-Erfüllung des „Solls“. Damit betreibt die Regierung Duque eine ähnliche falso positivo-Militärpolitik wie seinerzeit Álvaro Uribe Velez und dessen damaliger Verteidigungsminister Juan Manuel Santos.
Zu den genannten Faktoren und Entwicklungen treten dann noch mangelhafte Umsetzung der Bestimmungen für die Zonas Veredales Transitorias de Normalización, ZVTN (Transitionszonen) nun Espacio Territoriales de Capacitación y Reincorporación, ETCR (Territoriale Orte der Fortbildung und Wiedereingliederung) hinzu. Weiter die fortgesetzte Inhaftierung von politischen Gefangenen der FARC, keine Umsetzung der sozialen Bestimmungen der Friedensverträge, geschweige denn jener zur ruralen Entwicklung, sowie die wieder aufgenommene militärische Vernichtungspolitik von Koka-Plantagen mit krebserregendem Glyphosat statt Substitution und Landentwicklung. War die Regierung unter Juan Manuel Santos noch ambivalent und hielt eine Balance zwischen erfüllten und unerfüllten Bestimmungen, kann man von der Duque-Regierung sagen, dass sie in sämtlichen Bereichen das genaue Gegenteil zu den vereinbarten Verträgen umsetzt. Es wird mehr als deutlich, dass der kolumbianische Staat und seine politische Klasse spätestens seit Iván Duques Präsidentschaft darauf hinarbeiten, die Verträge unwirksam werden zu lassen. Der Friedensprozess wurde einseitig, nämlich durch die Regierungsseite, aufgekündigt, während die ehemalige Guerilla sämtliche Bestimmungen wortgenau umsetzte. Inwieweit eine solche negative Entwicklung bereits unter Santos absehbar war, ist Gegenstand heftiger Kontroversen. Fest steht jedoch, dass bereits in der Ära Santos Probleme in der Umsetzung der Bestimmungen auftraten, weil Teile des Staatsapparats sich weigerten, die Bestimmungen adäquat umzusetzen. Weiterhin fällt bereits in die Ära Santos die Verhaftung von Santrich und die Aufkündigung des so genannten Fast Track-Verfahrens, d.h. einer beschleunigten, dekretartigen Beschlussfassung ohne weitere Diskussion in den politischen Kammern. Durch die Aufkündigung des Verfahrens musste Bestimmung für Bestimmung der Friedensverträge erneut durch die Kammern des kolumbianischen politischen Systems diskutiert beziehungsweise beschlossen werden. Es ist also zwar anzunehmen, dass ein liberalerer, nicht mit dem Paramilitarismus verbundener Präsident, weniger aggressiv gegen die Friedensverträge vorgegangen wäre. Allerdings muss zugleich festgehalten werden, dass keine einzige der mit der kolumbianischen Oligarchie verbundenen politischen Parteien – von den Rechten um Centro Democrático, Cambio Radical, Partido Social de Unidad Nacional und Partido Conservador Colombiano bis hin zu den Liberalen um die Partido Liberal Colombiano – ein Interesse an der wortgenauen Umsetzung der Friedensverträge hat. Diese lesen sich zwar aus einer westlichen Perspektive als moderate, sozialdemokratische Programmatik, bedrohen jedoch in einem System, in dem die politische Linke, inklusive Sozialdemokratie und Gewerkschaften, stets ausgeschlossen und verfolgt wurde, potentiell das traditionelle Herrschaftssystem.
Für die bolivarianische Bewegung [2] und insbesondere die neue Linkspartei FARC ergeben sich vor dem Hintergrund dieses Szenarios gravierende Probleme. Zum einen kann festgehalten werden, dass die Stärke des politischen Gegners unterschätzt und die eigene Stärke überschätzt wurde. Die ehemalige Guerilla stellte zu Recht fest, dass eine klar sozialistische Partei im politischen Spektrum des Landes fehlte und gründete demnach eine solche Partei mit vergleichsweise moderatem Programm und eben keine Kommunistische Partei [3]. Als Erfolg kann festgehalten werden, dass diese Partei in den Städten teilweise in der Lage war, insbesondere junge Menschen politisch zu organisieren. Ein Erfolg ist wohl auch, dass es mit Gustavo Petro ein erstmals links stehender Präsidentschaftskandidat in die Stichwahl schaffte mit immerhin 41,77 Prozent der abgegebenen Stimmen. Jedoch haftete der Partei das Stigma des vermeintlichen Hauptschuldigen am bewaffneten Konflikt derart stark an, dass sie nicht nur von ihren politischen Gegnern, sondern auch innerhalb der Linken selbst politisch isoliert wurde. Das Wahlergebnis, aber auch das inhaltliche Umkippen des Präsidentschaftskandidaten der FARC Rodrigo Londoño in puncto Venezuela und dann der folgende Abbruch seiner Kandidatur sind Ausdruck dieser politischen Isolation. [4] Die von ihr angestrebte Rolle eines Sammelpunkts einer breiter aufgestellten Linken und der Bewegung für den Frieden wurde ihr von der Wahlbewegung Gustavo Petros, Colombia Humana (Menschliches Kolumbien) abgelaufen.
Dieser ausbleibende politische Erfolg wurde begleitet von der Zunahme politischer Morde an der Anhänger*innenschaft der Partei ebenso wie an ihr nahestehenden Aktivist*innen, den zunehmenden Vertragsbrüchen und der symbolischen Verhaftung von Santrich. Gleichzeitig verließen immer mehr demobilisierte Guerillerxs die Entwaffnungszonen in die Anonymität oder zurück in den bewaffneten Kampf. Von 13.049 ursprünglich registrierten Kämpfer*innen sind heute nur noch 3.500 in den ETCR. Die Führung der FARC geriet so nicht nur unter Druck des politischen Gegners, da dieser zunehmend auf die abnehmende Zahl von in den Zonen präsenter Kämpfer*innen verweisen konnte, sondern stand einer unzufriedener werdenden Basis gegenüber, die partiell nicht mehr bereit war, den Friedensprozess unter diesen Bedingungen mitzutragen. So bildeten sich innerhalb der Partei mehrere Flügel aus, die nun zunehmend schärfer miteinander in Konflikt geraten. Zur Zeit lassen sich drei Positionen im bolivarianischen Spektrum feststellen:
(1) Da wäre der Versuch der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfs, an dem insbesondere Gentil Duarte arbeitet. Der ehemalige hochrangige Kommandeur des Bloque Oriental (Östliche Front der FARC-EP) der Guerilla arbeitet seit seinem Untertauchen 2016 an einer Wiedervereinigung der versprengten Restverbände der FARC, die auch die Disidencia genannt werden. Diese versprengten Verbände haben sich unter Führung lokaler Ex-Kommandeure warlordisiert. Partiell kämpfen sie auch weiter unter politischem Banner. Bis dato gibt es noch keinen Einblick in die politische Programmatik der Gruppen. Ein Hinweis jedoch gibt die Aktion von dissidenten Mitgliedern der FARC in der Nationaluniversität in Bogotá im August 2018. Dort hatte eine vermummte und bewaffnete Miliz eine Kundgebung im traditionellen Stil der Milicias Urbanas (Stadtguerilla der FARC-EP) aus den Zeiten des bewaffneten Konflikts abgehalten. In der Rede wurde der Friedensprozess als gescheitert und die Führung der legalen Partei als „Verräter“ bezeichnet. Parallel dazu zirkulierte ein 16-seitiges Pamphlet, in dem die Reaktivierung der Partido Comunista Clandestino Colombiano, PCCC (Klandestine Kolumbianische Kommunistische Partei), dem politischen Arm der aufgelösten Guerilla, und die Rückkehr zum Marxismus-Leninismus als Leitlinie gefordert wird.
(2) Der linke Parteiflügel um Iván Márquez und Jesús Santrich. Diese beziehen in der parteiinternen Auseinandersetzung eine Position der Selbstkritik und der scharfen Kritik am aus ihrer Sicht gescheiterten Friedensprozess. Márquez, der gemeinsam mit anderen Kritiker*innen des Friedensabkommens im Juni 2018 wegen der Verhaftung von Santrich abgetaucht ist, veröffentlichte in regelmäßigen Abständen Schreiben der Selbstkritik an die Parteibasis. Dies trifft auf ein wachsendes Unwohlsein in der Führung der Partei, gilt Márquez als deutlich beliebter und als alter Rivale des Parteichefs Londoño. Sein letztes Schreiben anlässlich des skandalösen Hin und Her um die Entlassung von Santrich bedauerte erneut die vorzeitige Entwaffnung, sprach sich aber zugleich für einen Kampf um den Frieden aus. Welchen Plan Márquez über eine kritische Begleitung des Friedensprozesses hinaus verfolgt, bleibt bislang unklar. Er steht derzeit für eine Position des „Weder-Noch“: Weder ein „Weiter so!“, noch Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfs. Márquez wurde in seiner Haltung durch Jesús Santrich noch vor dessen Entlassung wie zu erwarten bestärkt, während der Parteivorsitzende Rodrigo Londoño als Vertreter des rechten Parteiflügels sich abwesend zeigte.
(3) Der rechte Flügel der Partei um den Parteivorsitzenden Rodrigo Londoño will unter allen Umständen am Friedensprozess festhalten und verteidigt den gescheiterten Prozess innerhalb und außerhalb der Partei bedingungslos gegen seine Kritiker*innen. Gleichzeitig wird man den Eindruck nicht los, dass dieser Flügel eine Art Anbiederungspolitik verfolgt. So entschuldigte sich Londoño kürzlich offiziell beim spanischen Staat, da auf dem Video der Entlassung Santrichs ein Unterstützer der Partei mit dem Logo der baskischen Unabhängigkeitsbewegung ETA aufgetreten war. Die rechte Presselandschaft hatte dieses Symbol anschließend zum Anlass genommen, der Linkspartei die Friedfertigkeit abzusprechen – was angesichts von 135 Toten Parteimitgliedern einer glatten Opfer-Täter-Umkehr gleichkommt. Das Schreiben Márquez’ schließlich provozierte Parteiführer Rodrigo Londoño kürzlich so sehr, dass er im Alleingang und an sämtlichen Parteigremien vorbei dessen Position zu einer Position für den Krieg (Twitter, 22. Mai 2019) und damit unvereinbar mit der Partei erklärte. Die Folge war ein Aufschrei an der Basis, sowie öffentliche Richtigstellungen und Verurteilungen aus der Führungsriege der Partei. Benedicto González, einer der Kongressabgeordneten der FARC und hochrangiges Mitglied, erklärte die Stellungnahme öffentlich de facto für illegitim und nicht repräsentativ. Londoño ruderte anschließend zurück und beschwor die Einheit in der Partei.
Während Londoño angeschlagen aus der öffentlichen Auseinandersetzung hervorgeht, rumort es innerhalb der Basis der Partei weiter. Zahlreiche Anhänger*innen des linken Flügels haben die Partei bereits verlassen. Besonders opportunistische Anhänger*innen des rechten Flügels sind zur grün-liberalen Partido Verde (Grüne Partei) übergelaufen. Mit weiteren Angriffen der kolumbianischen Regierung um Iván Duque auf das wenige Erreichte im Friedensprozess, insbesondere die JEP, und die legale Partei, ist zu rechnen. Die Situation wird daher für die FARC eher noch prekärer werden. Sollten sich noch mehr Mitglieder der legalen Partei vom Ziel des Friedens abwenden, steht Kolumbien vor einem erneuten bewaffneten Konflikt mit altbekannten Akteur*innen. Wird dahingegen weiter an einem faktisch gescheiterten Friedensprozess festgehalten droht ein Massaker im Ausmaß der Auslöschung der FARC-Vorgängerpartei Unión Patriótica (UP) bzw. die Integration als liberale Systempartei. Die politische Verantwortung für dieses jeweilig desaströse Ergebnis des Friedensprozesses hat jedenfalls, wie Jesús Santrich es kürzlich in seiner Botschaft anlässlich seiner Entlassung richtig mitteilte, allein der kolumbianische Staat zu tragen.
Anmerkungen:
[1] Die DEA stand erwiesenermaßen immer wieder im Bündnis mit Narco-Kartellen. Zuletzt wurde bekannt, dass sie sich mit dem Sinaloa-Kartell gegen die Zetas in Mexiko verbündet hatte. Also genau mit dem Kartell, das nun laut DEA mit Santrich Geschäfte gemacht haben soll. Die Recherche wurde von der mexikanischen Tageszeitung El Universal öffentlich gemacht.
[2] Die FARC nennen ihre ideologische Leitlinie Marxismus-Bolivarianismus, das heißt eine Symbiose von Marxismus-Leninismus und der panamerikanischen Ideen des antikolonialen Befreiungskämpfers Simón Bolívar. Auf den Bolivarianismus beziehen sich in Kolumbien viele Organisationen und Strömungen, unter anderem die soziale Bewegung Marcha Patriótica, die politische Partei Unión Patriótica, die Partido Comunista Colombiano (PCC), die Jugendorganisation Juventud Rebelde, die Guerilla FARC-EP und nun die legale Linkspartei FARC.
[3] Der politische Arm der FARC-EP war bis zur Gründung der Linkspartei die Partido Comunista Clandestino Colombiano (PCCC).
[4] Londoño hatte in dem Interview das Wording der radikalen Rechten in Kolumbien (Castro-Chavismus) zur Beschreibung von Venezuela übernommen und sich davon distanziert. Das hatte noch nicht einmal der gemäßigte Sozialdemokrat Gustavo Petro so geäußert.
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