Leere Worte von einem »Sozialen Europa«
Im Rahmen der »Europa-2020«-Strategie der EU traten mit dem ersten »Europäischen Semester« 2011 Gesetzgebungsmaßnahmen in Kraft, mit denen der »Stabilitäts- und Wachstumspakt« weiter verschärft und sein Anwendungsverfahren gestrafft wurde. Ein »gesamtwirtschaftliches Überwachungsverfahren« wurde eingeführt, mit dem nun auch Mitgliedstaaten gegängelt werden können, deren Budgetpolitik offiziell noch nicht dem Austeritätsdiktat von EU-Kommission und Euro-Zentralbank unterliegt.
Mittlerweile seit fünf Jahren unterzieht die Brüsseler Kommission die laut Verfassung ausschließlich der Abgeordnetenkammer zustehende Verabschiedung des Budgets vorab einer »vertieften Analyse«, um der Regierung auf deren Grundlage »Empfehlungen« zum Abbau »externer und interner Ungleichgewichte« sowie zur »Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit« zu unterbreiten. Wenn die Regierung die Vorgaben aber nicht befolgt, drohen Sanktionen, die die Regierungen der Mitgliedstaaten (»Europäischer Rat«) mit einer qualifizierten Mehrheit verhängen können.
Die Salariatskammer hat vergangene Woche ihren durchaus kritischen Avis zu den »Empfehlungen« aus Brüssel vorgelegt und zum Beispiel detailliert gezeigt, daß es nicht nötig ist, mehr ältere Schaffende länger im Arbeitsprozeß zu halten, um unser Rentensystem »besser abzusichern«. Das »Rentenproblem«, das die EU-Kommission ausgemacht haben will, sei zumindest mittelfristig »ein fiktives«.
Auch ihre Kritik, leider seien die wachsenden sozialen Ungleichheiten in Luxemburg kein Thema für die Brüsseler Behörde gewesen, ist sicher angebracht. Doch warum beteiligt sich die Salariatskammer noch immer daran, die EU der Banken und Konzerne schönzureden? Was bringt es, die EU-Kommission an die »Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR)« zu erinnern, die auf dem »EU-Sozialgipfel« im November 2017 in Göteborg proklamiert wurde?
Zwar stellt die ESSR 20 Grundprinzipien aus den drei Bereichen Chancengleichheit und Zugang zum Arbeitsmarkt, »faire« Arbeitsbedingungen und Sozialschutz sowie soziale Inklusion auf, doch rechtsverbindlich sind all diese hehren Prinzipien nicht. Immerhin hat die Kommission inzwischen zu einigen Rechtsakten angeleiert, z.B. in Form einer Richtlinie zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.
Konkrete Antworten auf die seit der letzten Verschärfung der kapitalistischen Dauerkrise auch in Luxemburg deutlich zutage getretenen essentiellen sozialen Probleme wie Armut und Wohnungsnot gibt die »Europäische Säule sozialer Rechte« aber nicht. Sie kann auch nicht dafür sorgen, daß ihre tägliche Lohnarbeit auch den sogenannten Working Poor anständige Lebensbedingungen garantiert. Von jenen, die zum Teil seit Jahren keine Arbeit mehr und also die größten Existenznöte haben, ganz zu schweigen.
Tatsächlich ist die ESSR die dritte unverbindliche Absichtserklärung der EU für soziale Rechte – nach der »Europäischen Sozialcharta« von 1966 und der »Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer« von 1989. Alle drei Erklärungen zeichnen sich durch eine rechtliche Unverbindlichkeit aus, deren wichtigster Grund wohl in der minimalen Regelungskompetenz der EU in allen das Soziale betreffenden Fragen liegt.
Selbst wenn sie rechtsverbindlicher würden, wären die Vorgaben noch immer derart unbestimmt, daß die Mitgliedstaaten einfach behaupten können, alle seien bereits umgesetzt. So bleiben soziale Rechte den wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Binnenmarktes untergeordnet. Die ESSR schützt die Schaffenden noch nicht einmal vor dem Abbau bestehender Sozialleistungen und der Beschneidung ihrer kollektiven Rechte, die der CSL aufgabengemäß besonders am Herzen liegen.
Oliver Wagner
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