Abschiebung ins Kriegsgebiet
Die türkische Regierung hat angekündigt, in den nächsten Wochen zahlreiche syrische Geflüchtete abzuschieben. „Das ist ganz einfach ein Staatsverbrechen“, sagt Zeki Öztürk, Aktivist der Parteiinitiative Toplumsal Özgürlük (Soziale Freiheit), als wir uns in Istanbul treffen. Seine Organisation ist unter anderem in der Peripherie von Istanbul aktiv, in der ein Großteil der syrischen Geflüchteten lebt.
Vor zwei Wochen begannen die türkischen Behörden, in einigen Quartieren von Istanbul Razzien durchzuführen. Sie richteten sich gegen Geflüchtete ohne Aufenthaltserlaubnis, aber auch gegen jene, deren Aufenthaltserlaubnis in einer anderen Stadt ausgestellt wurde. So registrierten sich viele Syrer*innen bei der Einreise zunächst in einer der südlichen Städte der Türkei, um von dort aus – vor allem aufgrund der Arbeitsmöglichkeiten – in die großen Städte im Westen zu ziehen. Die Bewegungen der Geflüchteten innerhalb der Türkei hängen auch mit den Abkommen und bilateralen Absprachen mit der Europäischen Union zusammen. Die EU hatte die Türkei dafür benutzt, die Einreise syrischer Geflüchteter in Europa nach seinen Bedürfnissen zu regulieren.
„Die türkische Regierung der AKP hat seit Beginn des syrischen Konflikts die Rhetorik der Solidarität mit den Geflüchteten dazu benutzt, um eine zentrale Rolle im Konflikt und somit in der ganzen geographischen Zone einzunehmen“ sagt Öztürk. In anderen Worten: Die syrischen Geflüchteten wurden dazu benutzt, um eine strategische Position im Konflikt einzunehmen, sowohl in Bezug auf die Versorgung mit Rohstoffen als auch in Bezug auf die „Sicherung der nationalen Grenzen“ besonders im Gebiet des kurdischen Syriens. Dafür wurde auch nicht davor zurückgeschreckt, mit dschihadistische Kräfte zu kollaborieren – während sich Europa komplett still dazu verhält. Diese Politik bestätigt Präsident Erdoğan in der Frage um die syrische Stadt Idlib, die Bahar al-Assad mit russischer Hilfe wieder übernehmen will. Der türkische Präsident scheint bereit zu sein, Idlib aufzugeben und das Schicksal von drei Millionen Menschen gegen die ihm vom syrischen Regime erteilte Erlaubnis einzutauschen, eine neue Offensive gegen die kurdische Bevölkerung östlich des Euphrats zu starten und somit die YPG zu schwächen. Verhandlungen zwischen der Türkei und Syrien zu diesem Thema sind im Gange.
Debatten um die syrischen Geflüchteten
In der Debatte um die aktuelle Politik der türkischen Regierung gegen die Syrer*innen müssen nun aber laut dem Aktivisten in erster Linie vier Themen berücksichtigt werden. Erstens geht es um die Diversität der syrischen Gemeinschaft, von denen viele schon seit rund sieben Jahren in der Türkei leben. Unter den dreieinhalb Millionen Syrer*innen in der Türkei gibt es arabische Sunnit*innen, Kurd*innen, Schiit*innen, arabische Alevit*innen, nomadische/fahrende Gemeinschaften und so weiter. Es handelt sich um ein Mosaik von Ethnien und religiösen Gemeinschaften, welches das Verständnis für die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Geflüchteten verkompliziert. Historische Konflikte und soziale Vorurteile werden politisch dazu instrumentalisiert, um die Konflikte innerhalb der türkischen Gesellschaft anzufeuern. Die türkische Geflüchtetenpolitik ist dabei eindeutig: „Wenn die Politik überhaupt die realen Probleme der Syrer*innen angegangen ist, dann ausschließlich für arabisch-sunnitische Männer“, erklärt Öztürk. Bei fast der Hälfte der syrischen Geflüchteten in der Türkei handelt es sich jedoch um Kinder und Frauen, die sehr spezifischen Gefahren ausgesetzt sind. Öztürk berichtet davon, dass es deshalb beispielsweise in einem von seiner Organisation aufgebauten Kulturhaus im Quartier Alibeyköy, rund einer Stunde Busfahrt vom Istanbuler Stadtzentrum in Richtung Norden entfernt, seit nun fast drei Jahren soziale Aktivitäten gibt, welche in erster Linie diesen beiden sozialen Gruppen dienen.
Ein zweites Thema betrifft die Arbeits- und Lebensbedingungen der syrischen Geflüchteten im Kontext einer tiefgreifender Krise des türkischen Akkumulationsregimes: In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 wurde einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts, der Importe und des Privatkonsums gemessen. Die türkische Wirtschaft war im Vorjahr noch um sieben Prozentpunkte gewachsen, nun weist alles auf eine größere Rezession hin. Gleichzeitig stiegen die Anträge für Arbeitslosengeld von Mai 2018 bis Mai 2019 um 52 Prozent an, im Vorjahr waren sie noch um 1,6 Prozent gesunken. Im 2018 hat die Inflation fast die 20 Prozent-Marke erreicht.
Die Regulierung der syrischen Migrationsflüsse hat faktisch zu einer Verteilung der Arbeitskraft zwischen der Europäischen Union und der Türkei geführt: Auf der einen Seite „rekrutieren“ die europäischen Staaten gut ausgebildete Syrer*innen; als Paradebeispiel fungiert dabei Deutschland mit einem großen Anteil an Fachärzt*innen bei rund 770.000 niedergelassenen syrischen Geflüchteten. Auf der anderen Seite hingegen bleiben niedrig qualifizierte Geflüchtete in der Türkei. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018, welche vom türkischen Roten Halbmond durchgeführt wurde, sind rund eine Million Syrer*innen auf dem türkischen Arbeitsmarkt aktiv. Sie arbeiten in der Abfalltrennung – einer Tätigkeit, die vollständig der Informalität überlassen wird, aber ohne die das Recycling-System gar nicht funktionieren würde – im Bausektor und vor allem im Textilsektor und in der Landwirtschaft. In letzterem wird von 92 Prozent irregulärer Arbeit ohne Vertrag und soziale Absicherung gesprochen. „Die Syrer*innen sind billige Arbeitskräfte. Wenn der türkische Durchschnittslohn bei rund 2200 türkischen Lira [derzeit rund 350 Euro] liegt, verdienen Syrer*innen 500 bis 700 TL. Wir haben sogar syrische Kinder angetroffen, die 5 TL pro Tag erhielten, also nicht einmal ein Euro. Ohne die syrische Arbeitskraft würde die türkische Wirtschaft in eine noch tiefere Krise stürzen“, so Öztürk.
Das dritte Thema betrifft das Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, welches im Jahr 2016 unterzeichnet wurde. Das Abkommen sah unter anderem die Überweisung von sechs Milliarden Euro Wirtschaftshilfe für die Verwaltung der syrischen Geflüchteten vor. Bisher wurden drei Millionen Euro bezahlt, aber laut Öztürk ist nur ein kleiner Anteil tatsächlich in den Empfangsstrukturen syrischer Geflüchteter investiert worden. „Die europäischen Finanzierungen flossen direkt in die Taschen des türkischen Staates und der Regierungsfunktionär*innen. Anstatt in den Empfangsstrukturen und in den sozialen Dienstleistungen zu investieren, welche die tatsächlichen Bedürfnisse der Geflüchteten befriedigen würden, hat der türkische Staat drei Geflüchtetencamps auf syrischem Boden eröffnet.“
Das vierte Thema bezieht sich schließlich auf die autoritäre Zuspitzung, die unter Präsident Erdoğan insbesondere nach dem (kurzfristigen) Verlust der Parlamentsmehrheit bei den Wahlen vom 7. Juni 2015 und nach dem Staatsstreichversuch vom 15. Juli 2016 vorangetrieben wurde. Seither wurden die sogenannten „Antiterroroperationen“ in den kurdischen Gebieten der Türkei, des Iraks und Syriens erhöht. Der Präsident lässt zum einen in immer wieder anschwellender Intensität sozialistische Aktivist*innen und Mitglieder der linken (bis sozialdemokratischen) Partei der Völker (HDP) festnehmen. Dasselbe gilt für die sogenannten „Neutralisierungen“ der kurdischen PKK-Kämpfer*innen im Nordirak und der YPG-Kämpfer*innen in Nordsyrien – ein ganz und gar orwellscher Begriff, der schlicht die Tötung von Kurd*innen bezeichnet. „Seit dem zunehmenden Autoritarismus der AKP-Regierung finden täglich bewaffnete Gefechte und Festnahmen statt“, erklärt Öztürk. Diese zunehmende Faschisierung habe, so der Aktivist weiter, dazu gedient, wieder die konservativen Sektoren der türkischen Gesellschaft während einer ersten Phase der Governance-Krise zu gewinnen. Nun wird sie gegen Migrant*innen angewendet.
Antwort auf die ökonomische Krise
Doch die Angriffe gegen die Rechte der Migrant*innen beschränken sich bei weitem nicht auf die Syrer*innen. Vor einem Monat kündete der Minister für interne Angelegenheiten Süleyman Soylu an, im Namen der Legalität und des städtischen Prestiges Razzien gegen die afrikanischen Migrant*innen in Istanbul vornehmen zu wollen. Laut Forscher*innen des Migrationsforschungszentrums der Universität Koç leben zwischen 50.000 und 200.000 Afrikaner*innen in Istanbul. Sie leben vorwiegend im Stadtteil Beyoğlu und arbeiten entweder als Straßenverkäufer*innen in den stark von Tourist*innen besuchten Straßen des Zentrums oder in der Textilindustrie – ohne Versicherungen, mit Arbeitstagen von bis zu 15 Stunden und mit einem Durchschnittslohn, der mit rund 1000 TL rund der Hälfte von dem entspricht, was ein*e türkische*r Arbeiter*in durchschnittlich verdient. So ist die türkische Governance gerade daran, ihren Charakter zu verändern: „Der Autoritarismus von Erdoğan kombiniert den traditionellen türkischen Despotismus mit Formen des Neofaschismus, wie er auch in Westeuropa zu beobachten ist“, kommt Öztürk zum Schluss.
Die Auseinandersetzung um das „Problem“ der syrischen Geflüchteten deckt somit die immer weiter zunehmenden sozialen und ökonomischen Widersprüche der Türkei auf. Inmitten einer ökonomischen Krise und einer Zunahme der Erwerbslosigkeit startet die Regierung Erdoğans einen Angriff auf die schwächsten Sektoren der Gesellschaft, um damit auf wachsende Existenzängste der türkischen Arbeiter*innen zu reagieren. In einer solchen Rhetorik finden sich die CHP, welche den neuen Bürgermeister von Istanbul Ekrem İmamoğlu stellt, und die Zentralregierung der AKP zusammen. Mitte Juni kündete in der von der CHP regierten Stadt Antalya der Bürgermeister an, die Strände der südtürkischen Tourist*innenstadt für Syrer*innen zu verbieten.
Gleichzeitig jedoch sind breite Sektoren der türkischen Ökonomie von der billigen und hyperausbeutbaren Arbeitskraft abhängig, um in der aktuellen Rezessionsphase ihre Profite garantieren zu können. Es zeichnet sich also ein nicht unbedeutender Konflikt zwischen den türkischen und internationalen Kapitalfraktionen, die in diesen Sektoren tätig sind, und der türkischen Regierung ab. Inwiefern dadurch die Dominanz der AKP und des Präsidenten Erdoğan in Frage gestellt wird, ist noch unklar. Eines jedoch ist klar: Der Kochtopf dampft und der Deckel wird nicht ewig halten können.
Anmerkung:
Die Angriffe des türkischen Staates auf die Geflüchteten bleibt indes nicht unbeantwortet: Es formiert sich zivilgesellschaftlicher Protest, etwa in der neu gegründeten Initiative Birlikte Yaşamak İstiyoruz (Wir wollen zusammen leben). Sie rief zu einer Kundegebung am vergangenen Wochenenende im Istanbuler Stadtteil Kadıköy auf. Das Titelbild des Artikels zeigt die Protestierenden.
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