Erinnerungen an den Friedensstat DDR
Dieser Tage fiel mir eine alte, leicht vergilbte Fotografie in die Hände, aufgenommen vor rund 60 Jahren in meiner Heimatstadt Brandenburg, der damaligen Stahlarbeiterstadt an der Havel. Die Stadt liegt, wie seit über tausend Jahren, heute immer noch an der Havel, nur von den zeitweise rund zehntausend Stahlarbeitern ist nach der Annexion der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland nicht viel mehr als eine Erinnerung geblieben…
Auf dem Foto ist eine belebte Straßenecke im Zentrum der Stadt zu sehen, das damals, in der zweiten Hälfte der 50er Jahre, immer noch von einigen Ruinen aus dem Zweiten Weltkrieg gezeichnet war. An einer Giebelwand ein großes Wandbild, das drei Jugendlich vor der Fahne der Freien Deutschen Jugend zeigt und dazu die Aufforderung: »Kämpft mit der Jugend für Frieden und Wohlstand!«
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Zu jener Zeit hatte ich im Kindergarten des Volkseigenen Betriebes (VEB) Stahl- und Walzwerk das Lied von der kleinen weißen Friedenstaube gelernt, wie tausende andere Kinder in der jungen DDR in hunderten anderen Kindergärten:
»Kleine weiße Friedenstaube,
fliege übers Land.
Allen Menschen, groß‘ und kleinen,
bist Du wohlbekannt.«
In einer weiteren Strophe heißt es:
»Fliege übers große Wasser,
über Berg und Tal,
bringe allen Menschen Frieden,
grüß sie tausendmal.«
Indoktrination, sagen manche dazu. Man könnte sogar sagen, eine Anmaßung, so wenige Jahre nach dem Krieg, den Deutsche über die halbe Welt hereingebrochen hatten. Vielleicht war es eine Anmaßung – aber nicht weniger als eben das, den Wunsch nach Frieden auf der ganzen Welt, hatte sich der junge Staat DDR auf die Fahnen geschrieben.
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Nachdem ich in der Heinrich-Heine-Schule endlich das ABC beherrschen gelernt hatte, konnte ich auch nach und nach erfassen, was dort im Foyer mit ehernen Buchstaben an der Wand zu lesen war:
»Laßt das Licht des Friedens scheinen,
daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint.«
Zeilen aus der Nationalhymne der DDR, geschrieben von dem deutschen Kommunisten Johannes R. Becher – Zeilen, verlacht und verspottet jenseits der Elbe damals als »Spalterhymne«; und verachtet, auch weil da von Frieden die Rede war.
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Sie nannten uns »Spalter«, weil wir – die meisten unserer Eltern und Großeltern – es gewagt hatten, nach dem verheerenden Krieg einen wirklichen Neuanfang zu versuchen, einen Staat zu gründen, in dem weder die alten Nazis, noch die Herren der Konzerne etwas zu sagen hatten.
Tatsächlich ging allerdings die Spaltung Deutschlands vom Westen aus. Nachdem sie das Gebiet östlich der Elbe, das von der Sowjetunion besetzt war und in dem deutsche Kommunisten im Bündnis mit Sozialdemokraten und vielen anderen Antifaschisten die politische Macht übernommen hatten, als für sie verloren betrachten mußten, machten sich die Vertreter der alten Macht schleinigst an die Konsolidierung der kapitalistischen Machtverhältnisse. Auf Betreiben der USA, mit ausdrücklicher Billigung der Regierungen Großbritanniens und Frankreichs, schlossen sie die westlichen Besatzungszonen zunächst zur »Bizone« und dann zur »Trizone« zusammen, führten mit in den USA gedruckten Geldscheinen über Nacht eine separate Währungsreform durch und begannen mit der Vorbereitung zur Gründung eines westdeutsche Staates.
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Unter der Leitung von Konrad Adenauer tagte von September 1948 bis Juni 1949 in Bonn eine Versammlung mit dem Namen »Parlamentarischer Rat«, die eine neue Verfassung für Westdeutschland ausarbeiten sollte. Die Mitglieder dieser Versamlung waren duch keine demokratische Wahl legitimiert worden. Auch das Ergebnis ihrer Tätigkeit, das »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland«, ist niemals durch eine Volksabstimmung bestätigt worden – im Gegensatz zur später erarbeiteten Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Schließlich wurde am 23. Mai 1949 mit der Inkraftsetzung des Grundgesetzes in Bonn die Bundesrepublik Deutschland offiziell gegründet. Als Reaktion darauf und zur Sicherung der antifaschistischen Ordnung im Osten Deutschlands erfolgte am 7. Oktober 1949 in Berlin die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik.
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Konrad Adenauer wurde – seine eigene Stimme gab den Ausschlag – zum Bundeskanzler der BRD gewählt. In Ermangelung eines vorzeigbaren Kandidaten übernahm er auch den Posten des Außenministers. In der ersten Adenauer-Regierung waren mehr Mitglieder der Hitler-Partei NSDAP vertreten als 1933 im ersten Kabinett von Hitler selbst.
Adenauer – nach dem auch im Luxemburger Europa-Viertel ein langer Boulevard benannt ist – war zeit seines Lebens ein konsequenter Vefechter der Einverleibung der DDR, er sprach leidenschaftlich von der »Befreiung der Sowjetzone«. Es ist nicht bekannt, daß er auch nur einmal den Namen »DDR« in seinen Reden erwähnt hätte.
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Als Kinder standen wir im Mai oft an den Straßen, wenn die »Friedensfahrt«, die Internationale Radfernfahrt für den Frieden, die jeweils am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, in Berlin, Prag oder in Warschau gestartet wurde, wieder einmal durch unsere Stadt kam. Wir fiberten den pfeilschnellen Fahrern entgegen, jubelten »Täve, Täve«, auf der Suche nach unserem Spitzenfahrer »Täve« Schur, und freuten uns über den Anblick der Fahrer der jeweils besten Mannschaft, die blaue Trikots trugen mit dem Abbild der kleinen weißen Friedenstaube von Pablo Picasso.
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Ja, es stimmt, die Verantwortlichen im Staat DDR gaben sich große Mühe, uns Kinder zu »indoktrinieren«. Aber nachdem zuvor jahrzehntelang Generationen von Kindern und Jugendlichen mit dem Gift der Verachtung gegenüber anderen Völkern, mit Rassenhaß und Antikommunismus indoktriniert worden waren – wofür das deutsche Volk und fast alle Völker Europas die Rechnung zu zahlen hatten –, blieb denjenigen, die nun die Führung des neuen Staates übernommen hatten, keine Alternative, als uns von frühester Jugend an mit dem Gedanken des Friedens und der Freundschaft zu anderen Völkern vertraut zu machen.
Die DDR, der erste Staat auf deutschem Boden, in dem den Kriegstreibern mit der Enteignung der Produktionsmittel die wirtschaftliche und die politische Macht genommen worden war, sollte ein Staat des Friedens sein – eine Anmaßung, die uns die Enteigneten bis heute übelnehmen.
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Nicht genug damit. In der DDR wurde auch eine Armee aufgestellt, um den errungenen Frieden zu schützen, der, das ist belegt, durchaus auch militärisch bedroht war. Im Unterschied zur Armee der Bundesrepublik Deutschland wurde die Nationale Volksarmee der DDR jedoch nicht von Offizieren aufgebaut, die zuvor in der »Legion Condor« im Krieg gegen die Spanische Republik und dann in der faschistischen Wehrmacht Kriegserfahrungen, Dienstränge und Orden erworben hatten – sondern von gestandenen Antifaschisten. Viele von ihnen hatten in den Reihen der Internationalen Brigaden die Spanische Republik gegen die spanischen, deutschen und italienischen Faschisten verteidigt, andere waren politische Gefangene in den faschistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen gewesen, einige von ihnen hatten sogar ihre militärischen Erfahrungen in den Reihen der Sowjetarmee im Kampf gegen den Faschismus gesammelt.
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Für immer im Gedächtnis bleiben wird mir jener kampferprobte Kommandeur, der uns eines Tages im Sommer 1971 in der Uniform eines Obersten der Grenztruppen der DDR gegenüber saß und aus seinem Leben berichtete. Er war 1936 als junger Kommunist dem Ruf der Kommunistischen Internationale zur Verteidigung der Spanischen Republik gefolgt, kämpfte als Leutnant in einer Einheit der Interbrigaden. Nach der Niederlage der Republik gelang ihm die Flucht in die Sowjetunion, wo er nach dem Überfall Hitlerdeutschlands seinen Platz in den Reihen der Sowjetarmee fand und als Leutnant an der Befreiung seiner Heimat teilnahm. Später gehörte er dann zu den Gründern der Nationalen Volksarmee der DDR.
Er war nicht nur sichtlich stolz darauf, Offizier in der ersten und einzigen Armee eines deutschen Staates zu sein, die niemals an einem Krieg gegen andere Völker beteiligt war. Der berechtigte Stolz klang vor allem aus seinen Worten, die er uns zum Abschied sagte:
»Ich war Soldat in drei Armeen – und jedes Mal in der richtigen!« Welcher deutsche Offizier konnte so etwas von sich sagen?
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Inzwischen hat sich der Traum des Kanzlers Adenauer erfüllt. Nach der Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse wurde das Gebiet der DDR durch die BRD annektiert, soziale Errungenschaften rückgängig gemacht, und die Grenzen der NATO wurden weit nach Osten ausgedehnt. Deutsche Soldaten stehen wieder an der Grenze zu Rußland, assistiert auch von luxemburgischen Soldaten. Es ist nicht bekannt, ob die deutschen Offiziere dort noch über die alten Meßtischblätter verfügen, die strategischen Landkarten von 1941 – aber es ist sicher, daß diese Offiziere ausgebildet wurden von Offizieren, die den Geist der Gründer der Bundeswehr verinnerlicht hatten, und das waren zum größten Teil jene, die Truppen der faschistischen Wehrmacht kommandiert hatten.
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Auf dem Foto mit dem Wandbild aus den 50er Jahren ist die Straße zu sehen, die ein Dutzend Jahre zuvor noch »Adolf-Hitler-Straße« geheißen hatte. Sie war inzwischen in »Hauptstraße« umbenannt worden. Deren Verlängerung in östlicher Richtung hieß zu Zeiten der DDR »Friedensstraße«. Diesen Namen hat man irgendwann nach 1990 in »Sankt-Annen-Straße« geändert.
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In der letzten Strophe des Kinderliedes von damals heißt es:
»Und wir wünschen für die Reise
Freude und viel Glück.
Kleine weiße Friedenstaube,
komm recht bald zurück!«