Jahr Eins des algerischen Hirak
Am 16. Februar 2020 feierte der Hirak, wie die algerische Protestbewegung bezeichnet wird, seinen ersten Geburtstag. Zur Feier des Tages fand am Sonntag inKherrata eine Demonstration statt – ein Jahr zuvor wurden hier die ersten Demonstrationen gegen die Ankündigung des fünften Mandates des damaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika organisiert. Hunderttausende Menschen aus ganz Algerien beteiligten sich.
Doch trotz der nun seit einem Jahr andauernden Proteste findet die algerische Gesellschaft keinen Weg aus der Krise und es bleibt zunächst einmal ungewiss, wie ein demokratischer Erneuerungsprozess initiiert werden kann. Denn in Algerien – wie auch in den anderen Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas, die in den letzten zehn Jahren tiefgreifende Erschütterungen durch massenhafte Protestbewegungen erfuhren – handelt es sich nicht einfach um eine politische Legitimitätskrise der Regierung, die durch eine neue Verfassung, Neuwahlen oder der Reorganisierung der politischen Klasse gelöst werden kann. Der ganze Apparat der politischen Repräsentation, der aus dem Unabhängigkeitskampf gegen den französischen Kolonialismus (1954-1962) entstanden ist, entspricht seit langem nicht mehr den sozialen und politischen Bedürfnissen der Mehrheit der algerischen Bevölkerung. Hinzu kommt, dass das ökonomische Akkumulationsregime, das fast ausschließlich auf die Ausbeutung der Erdöl- und Erdgasreserven basiert, seit geraumer Zeit an seine Wachstumsgrenzen stößt. Es geht also um ein komplexes Zusammenspiel von einer tiefen Krise der politischen Repräsentation und einer blockierten ökonomischen Entwicklung. Beides verhindert eine demokratische Erneuerung.
Ein politischer Zerfallsprozess
Das seit Ende der décennie noire herrschende politische System, das durch eine Regierungskoalition zwischen dem FLN (Front de Libération Nationale) und dem RND (Rassemblement National Démocratique) aufrecht gehalten wurde, hat mit dem letzten Mandat von Bouteflika seine Legitimität und Macht verloren. Die alten Männer der herrschenden politischen Klasse werden von den jungen Generationen nicht mehr anerkannt, obwohl erstere maßgebend an der Befreiung von der Kolonialherrschaft Frankreichs (1962) beteiligt waren. Die Parole «Système dégage!» hat daher keinen symbolischen Charakter, sondern ist äußerst ernst gemeint: Die alte politische Klasse kann den Forderungen der neuen Generationen nicht nachkommen und muss darum abtreten, um eine demokratische Erneuerung zu erlauben.
Dazu gehört auch der Militärapparat, dem seit der algerischen Unabhängigkeit stets eine zentrale Rolle in der Organisation des Staates zukommt. Mit dem Aufkommen der sozialen Proteste des letzten Jahres haben aber die einflussreiche Generalität entschieden, die Repräsentanten zu marginalisieren und vorübergehend selbst das Zepter in die Hand zu nehmen, in der Hoffnung, durch eine Kombination von teilweise demokratischer Öffnung (Organisierung von Neuwahlen) und repressiver Kontrolle der Situation (etwa durch Festnahmen politischer Aktivist*innen, Versammlungsverboten für demokratische Kräfte und massiver Polizeipräsenz während den wöchentlichen Demonstrationen) einen Machtübergang ohne radikale Veränderungen – und somit ohne Verlust der eigenen politischen und ökonomischen Privilegien im algerischen Staat – zu organisieren.
Folglich leitete auch die Wahl des neuen Präsidenten Abdelmadjid Tebboune am 12. Dezember 2019 keine Wende ein. Im Gegenteil: Die tiefe Wahlbeteiligung (unter 40 Prozent) und das Andauern der sozialen Proteste unter denselben Parolen («Pour un Etat civil non militaire!», «Tebboune président illégitime, il est installé par l’armée!», «Libérez les détenus!») waren nur ein weiterer Beweis dafür, dass das Problem tiefer liegt.
Eine blockierte ökonomische Entwicklung
Aufgrund der Preisfluktuation von Erdöl und Erdgas seit 2014 und der ökonomischen Kurzsichtigkeit der politischen Klassen, steuerte die algerische Wirtschaft in den letzten Jahren in eine tiefe Krise. Einige ökonomische Parameter sind Ausdruck davon: Das Außenhandelsdefizit erreichte im Jahr 2019 6.11 Milliarden US-Dollar (2018: 4.53 Mrd. USD). Der Export hat sich von 41.79 Mrd. USD im Jahr 2018 auf 35.82 Mrd. USD im Jahr 2019 reduziert, wobei auch der Export der zwei wichtigsten Produkte, Erdöl und Erdgas, um 11.8 Prozent reduziert wurde; dies entspricht einer Abnahme der Einnahmen von knapp 15 Prozent. Schließlich haben die Export-Einnahmen nur noch 85.43 Prozent der Importe abgedeckt im Vergleich zu 90.22 Prozent ein Jahr zuvor.
Auch die Dynamiken der Erwerbslosigkeit spiegeln die Schwierigkeiten der ökonomischen Entwicklung wider. Laut nationalem Statistikamt lag die offizielle Arbeitslosigkeit im Jahr 2019 bei 11.4 Prozent, das heißt fast 1.5 Millionen Menschen sind ohne Job. Am stärksten sind dabei die Frauen (20.4 Prozent) und die unter 24-Jährigen (26.9 Prozent) betroffen. Über 60 Prozent der Erwerbslosen gelten als Langzeitarbeitslose, die seit über einem Jahr aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind und kaum Perspektiven auf Wiedereingliederung haben.
Die Unfähigkeit des algerischen Regimes, eine Post-Erdgas-Ära anzudenken und zu planen, hat sich in den letzten Wochen in der Debatte um die Ausbeutung von Schiefergas gezeigt. Das staatliche Erdöl- und Erdgasunternehmen Sonatrach und der neue Präsident Tebboune haben Ende Januar 2020 erklärt: «Alle Bevölkerungsgruppen müssen wissen, dass es sich [beim Schiefergas] um einen Reichtum handelt, der uns von Gott dem Allmächtigen geschenkt wurde. Ich sehe keinen Grund dafür, warum wir nicht davon profitieren sollten; dessen Ausbeutung wird das Lebensniveau aller verbessern.» Die Ausbeutung von Schiefergas im Süden des Landes hat schon vor fünf Jahren zu Protesten gegen Umweltzerstörung und gegen den französischen Multi Total geführt. Denn Total setzt alles daran, in der Produktion von Schiefergas auf dem afrikanischen Kontinent eine zentrale Rolle zu ergattern, gerade weil die Ausbeutung von Schiefergas aufgrund der desaströsen Konsequenzen für Bevölkerung und Natur (massive Verschmutzung des Grundwassers) in Frankreich seit 2011 verboten ist.
Das Recht auf Hoffnung
Tebboune stellt also ökonomisch in keiner Weise einen Bruch mit der alten Politik dar. Im Zentrum seines politischen Handelns bleiben Pläne der kurzfristigen Profitmaximierung und die Stärkung des spekulativen Kapitals und nicht Langzeitinvestitionen zur Diversifizierung der Ökonomie, zur Schaffung von sicheren Arbeitsplätzen und zum Schutz der Umwelt. Solange diese Probleme nicht gelöst werden, werden die Proteste auch nicht abebben.
In der Zwischenzeit versucht die internationale Gemeinschaft mit offiziellen Staatsbesuchen den von der Straße zurückgewiesenen Tebboune zu unterstützen. Diese Legitimierung und Stabilisierung des Regimes unter Tebboune hat zum Ziel, einerseits Investitionsprojekte in einem ressourcenreichen Land zu etablieren, andererseits einen weiteren geopolitischen Alliierten im krisen- und konfliktgeprägten Mittelmeerraum zu gewinnen.
Die nun seit einem Jahr andauernden Proteste haben diese Widersprüche aufgedeckt. Ihr großes Potential liegt – der starken Repression zum Trotz – im anhaltenden friedlichen Charakter und in ihrer Entschlossenheit, eine (unmögliche) Lösung der Krise im gegebenen politischen Rahmen nicht zu akzeptieren, das Alte in neuem Gewand stets abzulehnen und auf einen radikal demokratischen Prozess zu beharren, der alle gesellschaftlichen Bereiche integriert. Die Tatsache, dass bis heute keine politische Organisation und keine öffentlichen Exponent*innen aus der Bewegung erwachsen sind, wird oft als Schwäche der Bewegung kritisiert. Doch paradoxerweise gilt sie gleichzeitig auch als Stärke, denn die Bewegung lehnt es ab, in ein politisches Feld zu investieren, welches sich in einem Zerfallsprozess befindet, und arbeitet gleichzeitig an Basisinitiativen, die als Vorarbeit einer zukünftigen verfassungsgebenden Versammlung verstanden werden müssen. Gerade darum liegt hier die einzige wirkliche Hoffnung auf gesellschaftlichen Wandel.
Quelle:
Veröffentlicht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland.