Türkei-Skandal um beschlagnahmte BAMF-Akten
PRO ASYL und Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern sofortige Anerkennung aller von der Beschlagnahmung der Akten betroffenen Personen
Anlässlich des Prozessauftakts gegen den ehemaligen Vertrauensanwalt des Auswärtigen Amtes, Yilmaz S. am 12. März 2020 in Ankara fordern PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen die sofortige Flüchtlingsanerkennung aller von der Beschlagnahmung der Akten betroffenen Personen. Entgegen der Beteuerungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist dies nicht regelhaft der Fall, wie eine Gerichtsverhandlung vor dem Verwaltungsgericht Hannover vor wenigen Tagen gezeigt hat. Auch stellte sich im vorliegenden Fall heraus, dass der Betroffene nicht direkt von den deutschen Behörden informiert worden ist, wie zuvor angekündigt.
Einem kurdischen Mann aus der Stadt Nusaybin (an der Grenze zu Syrien) war nach zweijährigem Klageverfahren erst vor Gericht die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen worden, obwohl das Auswärtige Amt dem Verwaltungsgericht mit Schreiben vom 03. Februar 2020 mitgeteilt hatte, dass die Daten des Klägers möglicherweise in die Hände des türkischen Geheimdienstes gelangt seien. Der Mann selbst war von den deutschen Behörden bisher nicht direkt informiert worden. Dabei hatte das BAMF zuvor öffentlich angekündigt, alle von der Festnahme des für die Deutsche Botschaft tätigen Vertrauensanwalts betroffenen Asylfälle würden von Amts wegen klaglos gestellt und ein Schutzstatus würde zugesprochen.
Nach wie vor bleibt die tatsächliche Zahl der Betroffenen unklar, ebenso die Tatsache, ob ihre Asylakten oder Einzelheiten über ihre Asylgesuche durch die Festnahme des Vertrauensanwalts in der Türkei in die Hände türkischer Behörden gelangt sein könnten.
Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachsen: »Das Auswärtige Amt muss endlich alle Zahlen auf den Tisch legen und alle Betroffenen vollständig und umfassend informieren. Diese Unterrichtungen können nicht geheim tagenden Ausschusssitzungen im Bundestag und den Abgeordneten vorbehalten bleiben. Die Betroffenen und deren Familien müssen über zusätzlich entstandene Gefährdungen informiert werden«.
Die Türkei entfernt sich seit Jahren von rechtsstaatlichen Verhältnissen und setzt eigene Staatsbürger*innen und die Opposition unter Druck. 2019 war das Land unter den Top 3 Herkunftsländern für Asylgesuche in Deutschland. Die Zahl der anerkannten Flüchtlinge aus der Türkei spricht Bände über den Verfolgungsdruck: Die bereinigte Schutzquote für Türk*innen betrug fast 53% – die überwältigende Mehrheit davon (rund 52 %) waren Anerkennungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention.
»Dass das BAMF bei so einer Verfolgungsdichte in der Türkei über Vertrauensanwält*innen des AA nachrecherchieren lässt, als würden rechtstaatliche Verhältnisse herrschen, ist fahrlässig und naiv«, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. Durch die Praxis der deutschen Behörden, durch Kooperationsanwält*innen Nachforschungen über Schutzsuchende im Verfolgerstaat zu stellen und sensible Daten aus dem Asylverfahren zu übermitteln, wurden die Betroffenen in Gefahr gebracht.
Wie die jüngsten Zahlen aus einer vertraulichen Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage im Bundestag zeigen, aus der der NDR zitiert, geht das Ausmaß der betroffenen Personen zudem über die bisherigen Annahmen deutlich hinaus. Danach haben Vertrauensanwält*innen in der Türkei im Jahr 2019 zu 592 Asylverfahren Informationen gesammelt. 2015 seien es dagegen noch 23 Verfahren gewesen. Es besteht insofern die Gefahr, dass über die bisher offiziell mindestens 83 betroffenen und von deutschen Behörden über ihre Gefährdung informierten Personen hinaus noch deutlich mehr Personen in den Fokus des türkischen Geheimdienstes, auch in Deutschland, geraten sein könnten.
Für alle Betroffenen und ihre Angehörigen, die infolge der Beschlagnahmung der Akten mit einer politischen Verfolgung rechnen müssen, sind Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
Hintergrund:
Am 12. März 2020 soll nach Angaben des NDR der Prozess gegen den ehemaligen Vertrauensanwalt der Deutschen Botschaft in Ankara Yilmaz S. beginnen. Dem Anwalt wird Spionage für Deutschland vorgeworfen. Er war zuvor vom Auswärtigen Amt damit beauftragt, Dokumente und Unterlagen zu prüfen, die aus der Türkei nach Deutschland geflohene türkische Staatsbürger*innen zum Beleg ihrer Verfolgung dem BAMF vorgelegt hatten. S. hatte diesen Auftrag seit mehr als zwanzig Jahren. Die Rechercheunterlagen des Anwalts befinden sich nun in den Händen des türkischen Geheimdienstes MIT. Darüber wurden 83 Personen in Deutschland zwischenzeitlich informiert. Bei einer späteren Durchsuchung der Kanzlei von S. sollen weitere fast 300 Akten beschlagnahmt worden sein.
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