„Humanitäre und soziale Explosion“
In einem Brief an die europäischen Institutionen sendet Aladár Horváth, Präsident des ungarischen Roma-Parlaments, einen drastischen Hilferuf aus.
Er schreibt: „Ein Drittel der ungarischen Gesellschaft verfügte zum Zeitpunkt des Ausbruchs der COVID-19-Epidemie über keine Reserven, und in den letzten drei Wochen befanden sich weitere Hunderttausende in einer völlig hoffnungslosen Situation.“ Die Mehrheit dieser Menschen lebe in Siedlungen, die praktisch von jeglichem Zugang zu Schutzausrüstung und Medikamenten abgeschnitten ist. In letzter Zeit reiche das Geld vieler Familien in diesen Slums, die hauptsächlich von Roma bewohnt werden, nicht einmal mehr für Lebensmittel. Die Folgen, die sich aus der Ausgangssperre, dem Hunger und dem Verlust von Familienmitgliedern durch COVID-19 ergäben, seien unerträgliches Leid und es drohe eine soziale Explosion. Ungarn wird von der EU mit hohen Zuwendungen zur Bewältigung der COVID-19-Krise bedacht, zu den untersten Schichten der Gesellschaft, die mehr und mehr verarmen, kommt aber kein Cent durch.
Armut und Hoffnungslosigkeit
Das eigentliche Problem aber ist die Armut in Ungarn. Hunderttausende erhalten – trotz Einkommenslosigkeit – keine Sozialhilfe und haben wegen der Einschränkungen auch keine Möglichkeiten auf Jobs (am Bau, in der Landwirtschaft und andere Tagelöhnerei) also schlicht kein Geld mehr, um das Lebensnotwendigste zu kaufen. Oppositionsparteien wie „Dialog für Ungarn“ sagten, dass die Regierungsmaßnahmen am tatsächlichen Ausmaß der Krise völlig vorbeigehen. Während andere Länder bis zu 20% des BIP als Rettungs- und Wiederaufbaurahmen ansetzen, stehe Orbáns Plan bei nicht einmal 8%. Die LMP fordert zudem die umgehende Einführung eines „Mindesteinkommens“, zu dem alle Familien Zugang haben, die nicht über ausreichende Einkommen/Vermögen verfügen. „Selbst diese Regierung muss verstehen, dass der soziale Frieden essentiell“ sei. Aber sie „ignoriere die kommende soziale Krise“.
Krebskranke fliegen aus Spitälern
Die ungarische Regierung hat angeordnet, dass im Zeichen des „Kampfes gegen das Virus“ so ziemlich alle Patienten und chronisch Kranken, auch die ausführlicher Pflege bedürfen, aus den Spitälern und Rehabkliniken geworfen werden. Mit Dienstag, 12.04., wurden alle Patienten, bei denen häusliche Pflege möglich sei und die bis dahin nicht von den Angehörigen abgeholt wurden, mit der Rettung an die Adresse gebracht, die bei der Einlieferung angegeben wurde. Informiert wurden die Angehörigen am Freitagnachmittag davor telefonisch.
Die krebskranke, im Sterben liegende Mutter im Csepeler Krankenhaus, oder der nicht mehr gehfähige demente Vater sind nur zwei Einzelfälle von vielen hunderten, deren Angehörigen sich bei hvg, index.hu und Népszava, drei der letzten Zeitungen, die nicht unter der Fuchtel von Orban stehen, gemeldet haben. Der zuständige Minister Kásler hat im Zusammenhang damit auch gleich zwei Krankenhausdirektoren entlassen, weil sie sich weigerten, der Ministerialverordnung Folge zu leisten. Einer davon ist der Leiter der staatlichen Rehabilitationsklinik (Országos Orvosi Rehabilitációs Intézet) Péter Cserháti, weil er sich weigerte, einen frisch an der Wirbelsäule operierten Patienten nach Hause zu schicken. Diese Wahnsinnsaktion hat ihren Ursprung in einem Orbán-Dekret, laut dem mindestens 60%(!) der Krankenhausbetten für Coronaviruskranke zur Verfügung stehen müssen, d.h. es wurden 36.000 (!) Krankenhausbetten geleert. Arme Familien, die selbst kaum über die Runden kommen, müssen sich nun zuhause um Angehörige kümmern, die ärztlicher Pflege bedürften.
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