Solidarisch sein aber kritisch bleiben
In Zeiten eines nationalen Notstandes, einer europaweiten Gesundheitskrise, die, wie gestern andernorts bereits treffend bemerkt wurde, so plötzlich über uns hereinbrach, wie die Halbzeit beim Fußball, schaffen Regierungen Voraussetzungen, um am Parlament vorbei regieren zu können, Notstandsbeschlüsse, um alle Hebel gegen das Virus in Bewegung setzen zu können. Dies ist zunächst einmal im Sinne aller Bürger, insbesondere der verletzlichsten unter uns. Solidarität in der Coronakrise ist und bleibt wichtig!
Notstandsgesetze bergen allerdings immer auch Risiken: Wie viel Einschränkungen von Persönlichkeitsrechten verträgt eine Demokratie in diesen Zeiten und wem dienen die Maßnahmen zuvorderst? Staaten schnüren nun milliardenschwere Rettungspakete, die den Unternehmen teils die Entlassungsflausen aus dem Kopf treiben, teils aber auch das nackte Überleben garantieren sollen. Schwarze Schafe, die Rettungsgelder einstreichen und gleichzeitig Entlassungen planen oder gar Dividenden an Aktionäre ausschütten, wurden in den vergangen Tagen vermehrt bekannt. Mancher Discounter im Einzelhandel, wie aktuell in Deutschland, legt gemachte Lohnvereinbarungen trotz der aktuellen Situation für die Beschäftigten bis Jahresende auf Eis.
Dazu kommen die angesprochen dafür sorgten, daß die Arbeitszeitgesetze ausgesetzt wurden, um »krisenrelevante Branchen« leistungsfähig zu halten. In Luxemburg verkündete dieser Tage der Einzelhandelsriese mit dem Stachelgewächs, daß er die Türen seiner Geschäfte in Zeiten der Krise sonntags geschlossen halten wollte. In Anbetracht der beschämenden Sturheit während der rezenten Tarifvertragsverhandlungen und der ansonsten sehr offensiven
Öffnungszeitenforderungen kann man diese Maßnahme, die dem Personal gegönnt sei, getrost unter Publicity abheften, denn die Zahlen werden stimmen derzeit.
Zurück zu den Notstandsmaßnahmen: Es muß uns bewußt sein, daß vieles, was in Zeiten der Krise gelockert wird, wie etwa Öffnungszeiten im Handel, die wahrlich alles andere als krisenrelevant sind, später besser als Forderung verkauft werden kann, weil die Bevölkerung sich daran gewöhnt. Gleiches gilt für Ortungsmechanismen auf dem Smartphone, deren Nutzung betont freiwillig sein soll. Schon vor der Coronakrise wurde die Handyortung und die damit einhergehende Datenerhebung bei den Bürgern in einigen EU-Ländern scharf debattiert.
Auch wenn allenthalben hoch und heilig versprochen wird, daß Verschärfungen bei den Persönlichkeitsrechten oder Arbeitszeiten zurückgenommen werden sollen, sobald die Pandemie ausgestanden ist, heißt es doch, achtsam zu bleiben, damit der einmal ins Rollen gebrachte Karren auch wirklich an der richtigen Stelle wieder zum Stehen gebracht werden kann.
Eins ist aber sicher: Wenn diese Gesundheitskrise überstanden ist, wird eine Zeit vermehrter Auseinandersetzungen um soziale Errungenschaften für die Lohnabhängigen kommen, denn Staat und Unternehmen wollen ihr für die Krisenbewältigung »verlorenes« Geld zurück, und wir müssen nicht lange überlegen, von wem.
Christoph Kühnemund
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