Territoriale Kontrolle in Pandemie-Zeiten im südlichen Kolumbien
In diesen schwierigen Zeiten, in denen die Menschheit nicht nur mit einer globalen Pandemie des Coronavirus COVID19 konfrontiert ist, sondern vor allem mit der sozialen Ungleichheit, die durch die Beschränkungen des Alltagslebens zur Eindämmung des Virus zutage kommen, ist es notwendig, einen Blick auf die südlichen ländlichen Gebiete in Kolumbien zu werfen. Denn hier sind die Menschen, trotz Reichtum des Landes, durch die Pandemie und vor allem dem sozialen und bewaffneten Konflikt von Hunger und extremer Armut bedroht.
In dieser Diskussion dreht es sich vor allem um die ländliche Bevölkerung, indigene Gruppen und Afrokolumbianer, die seit jeher vom Konflikt und von der Ungleichheit betroffen sind. Der Zugang zu sozialen Dienstleistungen wie dem Gesundheitssystem, zu Nahrungsmitteln, wirtschaftlichen Hilfen oder anderer sozialer Infrastruktur ist im ländlichen Bereich wegen staatlicher Korruption, fehlender staatlicher Investitionen und dem Konflikt prekär. Verschärft wurde diese Krise durch die Pandemie und die folgenden Beschränkungen und Sicherheitsmaßnahmen, wie zum Beispiel einer Ausgangssperre und Restriktionen in der Mobilität.
Gerade das ländliche Gebiet ist stark von den Restriktionen der Mobilität betroffen, so arbeiten doch viele Personen als informelle Tagesarbeiter auf dem Land und wird der Großteil der Lebensmittelversorgung über dem Landweg auch auf informellen Wegen durchgeführt, ohne dass Konzessionen oder Verträge für deren Abwicklung vorhanden sind. Zwar wurde die Lebensmittelversorgung nicht strikt untersagt, doch der aufkeimende bewaffnete Konflikt in einigen Regionen und die Angst vor Strafen oder dem Virus allgemein, hat zu einer Verringerung des Warenangebotes und der Märkte geführt.
Haben sich in der zurückliegenden Zeit viele Menschen auf dem Land in der Hoffnung ergeben, dass das Friedensabkommen zwischen ehemaliger FARC-EP und der Regierung umgesetzt werden würde, welches immerhin einen wichtigen und strukturellen Part zur integralen Agrarreform und Entwicklung der ländlichen Gebiete enthält, so wurden diese Hoffnungen unter der Regierung von Duque schwer enttäuscht. Die Entwicklungsprogramme mit territorialem Schwerpunkt (PDET) sind kaum vorangekommen und das Nationale Umfassende Programm für den Ersatz von illegalen Kulturen (PNIS) wie Koka oder Mohn ist nun ad acta gelegt. Stattdessen greifen staatliche Sicherheitskräfte in militärischen Operationen die ländliche Bevölkerung an, beseitigen gewaltvoll die illegalen Kulturen und bieten aber keine Handlungsalternativen an. Zurück bleibt eine desillusionierte Bevölkerung.
Inmitten dieser Krise sehen bewaffnete Strukturen ihre Chance. Besonders im Cauca, im Nariño und in Putumayo flammt der bewaffnete Konflikt auf und versuchen diese Gruppen und Organisationen in den ländlichen Gebieten Fuß zu fassen. Dies geht einher mit militärischen Auseinandersetzungen, Bedrohungen und Einschüchterungen bis hin zu Vertreibungen. Zuletzt sorgten die dissidentischen Strukturen der FARC-EP im Cauca für große Besorgnis, die Teile des ELN aus ihrem Gebiet vertreiben konnten und nun große Teile des Nordens und Südens für sich reklamieren.
Etwa 30 bewaffnete Männer, die sich als Front Carlos Patiño der FARC-EP identifizierten, suchten in der Gemeinde Argelia im Süden Caucas ehemalige FARC-Kämpfer, die sich dem Friedensprozess verschrieben haben. Diese gelten wegen ihrer Abkehr zur ursprünglichen aufständischen Organisation als Feinde. Es gab Treffen der FARC-Dissidenten mit der Bevölkerung, in der sie ausdrückten, dass sie territorial die Herrschaft haben und ihre Organisation sowie ihre Projekte unterstützen würden. Tatsächlich sind die Strukturen des Comando Coordinador de Occidente, dem Westlichen Koordinationskommando von verschiedenen Strukturen der bewaffneten FARC-EP, stark umstritten. Zum einen, weil sie sehr aggressiv gegen potentielle Feinde vorgehen, zum anderen, weil ihre politische Substanz derzeit noch nicht erkennbar ist.
Im Westlichen Koordinationskommando sind unter anderem die sogenannten mobilen Kolonnen Jaime Martínez und Dagoberto Ramos sowie auch die Front Carlos Patiño vereint. Dabei war auffällig, dass die eigentlich im Norden operierende mobile Kolonne Jaime Martinez die Strukturen im Süden, wie die Front Carlos Patiño, unterstützten. Zuletzt gaben beide Strukturen in einem Kommuniqué vom 15. Mai bekannt, dass Erpressungen und Schutzgelder nicht Teil ihrer Strategie sind und dass diese Aktionen auf das Konto anderer bewaffneter Gruppen und der Armee gehen, die den Namen der FARC-EP beschmutzen wollen.
Klar sind jedoch die Regelungen der dissidentischen FARC-EP im Cauca in Bezug auf die Pandemie. So heißt es in einem Kommuniqué der Struktur Jaime Martínez vom 2. Mai.:
1) „Wir werden nur die Mobilität von Personen erlauben, die ärztliche Beratung benötigen, Behandlung oder die Symptome von COVID-19 oder einer anderen schweren Krankheit haben.
2) Für die Aufrechterhaltung der Wirtschaft der Gemeinden und ihrer Corregimientos haben nur Lastwagen, Besitzer von Chivas und Lastenkähne Mobilität, dieses Personal darf fahren, solange die Maßnahmen sichtbar werden, die in ihren jeweiligen Gemeinden von den Autoritäten vorgeschlagen wurden, um die Ausbreitung des Virus zu vermeiden.
3) Aus Sicherheitsgründen und um die Ausbreitung des COVID-19 zu vermeiden, darf ab diesem Zeitpunkt niemand in die Territorien ausreisen noch einreisen. Wer das Territorium betritt, ohne sich an die Richtlinien zu halten, wird an seinen Herkunftsort zurückverwiesen.
4) Die Person, die Heimservice anbietet, sei es in Autos, auf Motorrädern oder Lastkähnen, dem wird das Fahrzeug beschlagnahmt und der Inhaber von unserer Organisation sanktioniert werden.
5) Die Personen, die diese Orientierungen nicht einhalten, werden drastisch sanktioniert.“
Während also die bewaffneten Strukturen der FARC-EP klare Regelungen bezüglich COVID19 an die Bevölkerung geben, die im Übrigen auch dafür sorgen, dass ihre territoriale Präsenz nicht gefährdet wird, handhaben die eher politisch agierenden bewaffneten Strukturen um die FARC-EP, Zweites Marquetalia, diese Situation mittels medialer Präsenz und Kommuniqués, die darauf abzielen, die soziale Ungleichheit und die Verärgerung über das neoliberale Agieren unter der Regierung Duque zu thematisieren. So soll die Bevölkerung auf die Straße zurückkehren, sich mobilisieren und demonstrieren, „um weiterhin das Zerwürfnis des ganzen Volkes mit der schlechten Regierung von Iván Duque, dass die Regierung der Mafia, der Korrupten, ist.“ Da die Struktur „Zweites Marquetalia“ über keine nennenswerte territoriale Macht verfügt, agiert sie vor allem politisch im medialen Bereich.
Territoriale Kontrolle auch physisch auszuüben bedeutet die politisch-militärische Kontrolle über ein Gebiet zu haben. Dies funktioniert vor allem über kleine Patrouillen, Versammlungen und Zusammenkünfte mit lokalen Führungspersonen oder der Bevölkerung sowie über mobile Checkpoints, also Straßenkontrollen. Die passiert im Cauca regelmäßig durch oben genannte dissidentische Strukturen der FARC-EP. Doch auch Indigene und Bauernvereinigungen bedienen sich dieser Mittel, vor allem in den selbstverwalteten Territorien der indigenen Gruppen oder den sogenannten Bauernschutzzonen. Dies passiert oftmals im Widerspruch zu den teilweise dort agierenden bewaffneten Strukturen, weil sie in einer Konkurrenz zum Machtanspruch stehen oder in Konkurrenz zu den staatlichen Sicherheitskräften, weil darin die staatliche Autorität untergraben wird.
Diese Kontrollposten haben in der Pandemie einen neuen Weg des Schutzes aufgezeigt. In der selbstverwalteten Region El Pato – Balsillas, in der östlichen Kordillere zwischen Huila und Caquetá gelegen, gibt es derzeit diese Schutzmaßnahmen, um sich vor COVID19 zu schützen. So wird die Mobilität kontrolliert, begünstigt durch die staatlichen Isolationsmaßnahmen. Eigentlich soll jede Person auf seiner Finca arbeiten und Transport und Verkehr vermeiden. Sollte ein Transport notwendig sein, zum Beispiel bei medizinischen Dingen oder verderblichen Lebensmitteln, dann finden an den Kontrollposten Chlor- und Alkoholdesinfektionen für Fahrzeug und Fahrzeugführer statt. Finanziert und durchgeführt werden diese Maßnahmen durch die lokale Selbstverwaltung, hier zum Beispiel die Organisation AMCOP, die auch eine Bauernwache führt, eine unbewaffnete Schutzeinheit nach dem Vorbild der Indigenen Wache.
Durch die starke Verankerung in der Bevölkerung können die bäuerlichen und indigenen Organisationen auch Solidaritätsprojekte durchführen. So werden Sammlungen in den Territorien durchgeführt und von den lokalen bauernmärkten unterstützt, um bedürftige und benachteiligte Familien zu helfen. Überhaupt ist die Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten aber auch Technologie in Zeiten der Isolation ein Thema, dass in den selbstverwalteten Strukturen besser angegangen wird, als durch die Regierungen auf Landes- oder Departementebene. Hier zeigt sich die jahrzehntelange Erfahrung in den vom Staat verlassenen Regionen, wo aufständische Organisationen oder lokale Selbstverwaltungsstrukturen effizienter und präsenter sind.
Die von Präsident Iván Duque vom 24. März bis jetzt anhaltende angeordnete Quarantäne bzw. Isolation ist in vielen ländlichen Regionen des Südens eine Gelegenheit von bewaffneten Strukturen gewesen, ihre Aktivitäten und ihren Einfluss auszubauen. Auch, weil Teile der staatlichen Sicherheitskräfte in Maßnahmen der Quarantänesicherungen involviert sind und generell die Mobilität eingeschränkt wurde. Die Aufmerksamkeit auf die Pandemie hat die Situation in den ländlichen Gebieten, die seit jeher vom Staat vernachlässigt werden, nicht leichter gemacht. Besonders dissidentische Strukturen haben mit Kommuniqués die Ordnungs- und Verhaltensregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens bestimmt.
Für die lokalen Selbstverwaltungsstrukturen und aufständischen Organisationen, hier die unterschiedlichen dissidentischen Strukturen der FARC-EP, egal wie die politische Ausrichtung und das revolutionäre Erbe zur ehemaligen FARC-EP aussieht, ist die sogenannte Corona-Krise eine Chance, in den Territorien ihren Einfluss auszubauen, wenn auch wie im Falle der Guerilla manchmal konträr zur Mehrheit der lokalen Bevölkerung, konträr zu den Menschenrechtsbestimmungen und oftmals nicht friedlich. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass Kolumbien per se kein friedliches Land ist und strukturelle Gewalt in Form von Armut, Ungleichheit und Unterdrückung das Regierungshandeln und den sozialen Konflikt bestimmen.
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