Umverteilen reicht nicht
Seit mittlerweile einem Jahrzehnt beleuchtet das »Panorama social« der Salariatskammer Jahr für Jahr die Situation der Schaffenden, der Mindestlohn- und REVIS-Empfänger, von Alleinerziehenden, Mietern und Arbeitslosen in Luxemburg. Die empirischen Daten vermitteln ein klares Bild darüber, daß insbesondere die Schaffenden von den wachsenden Gefahren der sozialen Ausgrenzung betroffen sind.
Das »Sozialpanorama« führt so jedem, der es wissen will, vor Augen, daß eine Angleichung der Lebensverhältnisse ohne deutlich höhere Steuern auf Vermögen und Spitzeneinkommen und ohne eine saftige Erhöhung der Löhne, Sozialleistungen und Renten schon rein rechnerisch unmöglich ist.
Die Studie der Salariatskammer hat jedoch auch Schwächen. So hat ihr Direktor bei der Präsentation selbst darauf hingewiesen, daß zum Beispiel bei der »Lohnquote« auch die Millioneneinkommen der Kapitalmanager enthalten sind, und daß leider wieder nicht auf die ungleiche Verteilung der (meist geerbten) Vermögen eingegangen wurde.
Das ist auch gar nicht so leicht. Reiche verhalten sich wie scheue Rehe. Und manchmal wissen sie selbst nicht so genau, was ihnen an Wertpapieren, Unternehmensanteilen, Immobilien, Konten usw. gerade gehört. Das erschwert die genaue Erfassung des Reichtums. Man kann oft nur schätzen oder muß zum Beispiel die Jahresberichte größerer Unternehmen heranziehen.
Eines weiteren Mangels der Publikation scheint man sich seitens der Salariatskammer jedoch nicht bewußt zu sein: Obwohl die an vielen Stellen eindringlich und anschaulich beschriebene Verstärkung der sozialen Ungleichheit im Land nur im Kontext der sinkenden Profitrate des Kapitals und des veränderten politischen Kräfteverhältnisses zu verstehen ist, wird auf diese Eigenart kapitalistischer Ausbeutung nicht eingegangen.
Vom konkreten Platz im Produktionsprozeß, also von der beruflichen Position, die jemand einnimmt, hängt aber ab, wie sicher sein Arbeitsplatz ist, unter welchen Umständen er und seine Familie wohnt, welche Lebenschancen die Familie hat, wie die Qualität ihrer Ausbildung ist, wie sie sich am gesellschaftlichen und kulturellen Leben beteiligen kann, wie die gesundheitliche Verfassung der Familienmitglieder ist und sogar, wie kurz oder lang sie zu leben haben.
Denn so aufschlußreich die Tatsachen über die Konstanz sozialer Benachteiligungen auf der einen und strukturelle Privilegierungen auf der anderen Seite der kapitalistischen Medaille auch sind, so repräsentieren sie doch nicht den Kern der Klassenfrage. Zwar geht es dabei auch um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit – aber nur am Rande.
Denn bei den Einkommensunterschieden und den unterschiedlichen Konsummöglichkeiten handelt sich nur um Erscheinungsformen der Klassenspaltung im Kapitalismus. Die »tatsächlichen sozialen Ausdrucksformen des Klassenantagonismus« aber wohnen nach Lenin den Produktionsverhältnissen und den mit ihnen vermittelten Ausbeutungsstrukturen inne.
Die Benachteiligung der Schaffenden in (fast) allen Lebensbereichen der kapitalistischen Gesellschaft sind nur Symptome der grundsätzlichen Tatsache, daß mit Hilfe der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und der Kontrolle über das Finanzsystem Herrschaft ausgeübt wird: Es werden Arbeitsplätze eingerichtet oder abgebaut und damit die Existenzbedingungen für die Schaffenden bestimmt.
Es reicht deshalb beileibe nicht, systemimmanent umzuverteilen, ohne die Unterwerfung unter das kapitalistische Profitprinzip und die Aneignung fremder Arbeit zu beenden.
Oliver Wagner
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