23. November 2024

Altenpflege in Straßenkleidung

In stationären Pflegeeinrichtungen hat sich die Struktur der Bewohnerinnen und Bewohner seit Einführung der Pflegeversicherung erheblich verändert: Ihr Durchschnittsalter und ihre Pflege- und Behandlungsbedürftigkeit hat sich erhöht. Kontinuierlich hat sich die Aufenthaltszeit Pflegebedürftiger in einer stationären Einrichtung von durchschnittlich fünf auf drei Jahre verringert. Multimorbidität und Demenz tragen zu erheblichen Erschwernissen im Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner bei. Damit verbunden ist eine zunehmende Schwäche des Immunsystems der Pflegebedürftigen, die sie für Infektionen anfällig macht. Es überrascht daher nicht, dass Infektionen der Risikogruppe 2 in solchen Einrichtungen nichts Außergewöhnliches sind. MRSA-, Clostridien- und Salmonellenbakterien, Noro- und Herpesviren, Krätzeparasiten und Candida-Albicans-Pilz sind nur einige der sich hier immer wieder ausbreitenden Erreger. Und erst jüngst stellte das Coronavirus SARS-CoV-2 die Lebensbedingungen in den Pflegeheimen auf den Kopf und offenbarte neben den Mängeln bei den Arbeitsbedingungen der Beschäftigen auch die Mängel beim Infektionsschutz und der Hygiene in den stationären Pflegeeinrichtungen.

In etwa 80 Prozent aller stationären Pflegeeinrichtungen tragen die Pflegekräfte während ihrer Arbeit normale Straßenkleidung. Etliche von ihnen verlassen die Einrichtung mit der gleichen Kleidung, mit der sie diese betreten haben.

Hygienekleidung ist Pflicht

Schon besser sieht da die Lage bei den Beschäftigten der Hauswirtschaft aus, die mit Lebensmitteln umzugehen haben. Wer Lebensmittel produziert, verarbeitet oder vertreibt, muss zum Schutz der Verbraucher Regelungen zur Lebensmittelhygiene einhalten. Hierzu gehört auch das Tragen von „geeigneter und sauberer Arbeitskleidung“. Geeignet ist Arbeitskleidung, wenn sie zum Beispiel hell, leicht waschbar und sauber ist, die persönliche Kleidung vollständig bedeckt und für Personen, die mit offenen Lebensmitteln arbeiten, zusätzlich eine Kopfbedeckung umfasst. Das Bundesarbeitsgericht stellte aufgrund der einschlägigen Vorschriften zur Lebensmittelhygiene fest, dass ein Lebensmittelunternehmer verpflichtet ist, seinen Beschäftigten saubere und geeignete Hygienekleidung zur Verfügung zu stellen. Dies gehöre zum Verantwortungsbereich des Unternehmers.

Während also Beschäftigte im Umgang mit Lebensmitteln Arbeitskleidung tragen müssen, die vom Arbeitgeber zu bezahlen, zu waschen und zu pflegen ist, gilt dies nicht für die überwiegende Zahl von Pflegekräften in deutschen stationären Pflegeeinrichtungen. Deshalb hört man oft von Pflegekräften den sarkastischen Satz: „Der Brokkoli wird besser geschützt als wir oder unsere Pflegebedürftigen.“

Wie ist es möglich, dass in Einrichtungen, in der infektionsanfällige Pflegebedürftige leben, die Pflegekräfte keine Arbeitskleidung tragen? Warum hält es die Gewerkschaft ver.di für notwendig, mit der „Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP)“ einen Tarifvertrag zu verhandeln, in dem unter anderem geregelt werden soll, dass die Arbeitgeber den Pflegekräften Arbeitskleidung zu stellen haben? Die Antwort ist wie immer ganz einfach: Weil sich Heim- und Kostenträger auf Kosten der Beschäftigten und der Pflegebedürftigen Ausgaben ersparen wollen und hierbei die Tatsache ausnutzen, dass die Rechtslage nicht so einfach zu durchschauen ist.

Fehlende Verordnungen

Die Pflegeeinrichtungen haben nach dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse die Pflegebedürftigen zu pflegen, zu versorgen und zu betreuen. Das nordrhein-westfälischen Wohn- und Teilhabegesetz fordert sogar, dass die Leistungsanbieter sicherzustellen haben, dass bei der Leistungserbringung ein ausreichender Schutz vor Infektionen gewährleistet ist und die Beschäftigten die Hygieneanforderungen nach dem anerkannten Stand der fachlichen Erkenntnisse einhalten. In der Begründung des fast gleichlautenden baden-württembergischen Gesetzes heißt es in aller Deutlichkeit: „Infektionen haben in stationären Einrichtungen eine erhebliche epidemiologische Bedeutung hinsichtlich Morbidität und Mortalität.“

Welche Maßnahmen müssen demnach die Heimträger treffen, um dem Infektionsschutz gerecht zu werden? Was ist der aktuelle Stand der fachlichen medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse? Eine Antwort bleiben die Landesgesetzgeber zum Beispiel in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen seit 2014, dem Inkrafttreten der genannten Gesetze, schuldig. Bis heute hat es das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW versäumt, von seiner Ermächtigung Gebrauch zu machen und eine Rechtsverordnung über hygienerechtliche Anforderungen für Wohn- und Betreuungsangebote zu erlassen, „um einen ausreichenden und dem Konzept angepassten Schutz der Nutzerinnen und Nutzer vor Infektionen sowie die Einhaltung der für ihren Aufgabenbereich einschlägigen Anforderungen der Hygiene durch die Beschäftigten zu gewährleisten.“ Es liegt der Verdacht nahe, dass eine solche Verordnung vor allem aus fiskalischen Gründen bisher nicht auf den Weg gebracht worden ist, um im Rahmen des Konnexitätsprinzips nicht auf den Kosten sitzen zu bleiben, die das Land NRW den Kreisen und kreisfreien Städten als letzten Kostenträgern der Pflegeheime zu erstatten hätte.

Und solange die Kostenübernahme nicht eindeutig geklärt ist, verweigern sich sowohl die Pflegeunternehmen als auch die zuständigen Kontroll- und Schutzbehörden, die ihren Verpflichtungen nach dem Arbeitsschutzgesetz und der Biostoffverordnung nicht nachkommen. Keine Behörde hat sich bisher in NRW getraut, den ersten Stein zu werfen.

Der Autor ist Fachkrankenpfleger, Mitglied der ver.di-Bundestarifkommission Altenpflege und Stellvertretender Vorsitzender des Gesamtbetriebsrates im AWO Bezirk Westliches Westfalen. Teil zwei seines Beitrags lesen Sie in der nächsten Woche.

Quelle:

UZ – Unsere Zeit

Wirtschaft & Gewerkschaft