Rollen verteilt
Man erkennt sie häufig nicht auf den allerersten Blick: arme Kinder in unserem reichen Land. Obwohl ihr Anteil unverändert hoch ist; jedes fünfte Kind lebt in Verhältnissen, die jeder Regierung unendlich peinlich sein müssten, die es gewohnt ist, mit Milliarden zu jonglieren. Die vermeintliche Armutsgewöhnung liegt auch daran, dass die Eltern betroffener Kinder in der Regel versuchen, die Benachteiligung ihrer Sprösslinge zu tarnen. Vor allem ihnen, den Kindern selbst, soll die Benachteiligung nicht in jeder Minute bewusst werden.
Perfide ist deshalb das Argument, man würde doch gar nicht den Kindern helfen, wenn man eine Grundsicherung für sie einführte, wie es Sozialvereine oder zum Beispiel die Linke seit Langem fordern. Sondern die Eltern würden das zusätzliche Geld nutzen, um die Haushaltssituation der Familie zu verbessern – oder womöglich nur die eigene.
Untersuchungen legen immer wieder das Gegenteil nahe. Eltern sparen in aller Regel zuerst bei sich selbst. Doch noch schlimmer als die Verachtung, die hinter solchem Verdacht steht, ist, dass damit das eherne Prinzip von Unten und Oben verteidigt wird. Es unterstellt den Eltern, selbst schuld zu sein an ihrer und der Lage ihrer Familien. Und es unterstellt, dass es richtig ist, sie dafür zu bestrafen – samt ihrer Kinder. Warum denn sollte es falsch sein, Eltern zu helfen, deren Kinder arm sind? Das Prinzip, das den Anachronismus zur Regel macht, reproduziert erst jene Missgunst, die sich so gern gegenüber vermeintlich Schwächeren auslebt und leider immer wieder auch unter den Schwachen selbst ihren Nährboden findet. Dieses Prinzip ist der Grund, dass es Arme gibt. Letztlich dreht sich deshalb alles immer wieder um die eine Frage: ob man sich mit diesem Prinzip abfinden will, das Bertolt Brecht in der Begegnung zweier Männer schildert. „Und der arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“
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