Die neue Normalität
Nach einem coronabedingten Absturz um 6,8 Prozent im ersten Trimester konnte China seine Wirtschaftsleistung in den vergangenen drei Monaten wieder um 3,2 Prozent steigern. Das dürfte auf absehbare Zeit keiner größeren Volkswirtschaft gelingen. Die Anfang des Jahres abgestürzte Industrieproduktion ist im Juni sogar um 4,8 Prozent gegenüber dem Vorjahresjuni gestiegen und der chinesische Außenhandelsumsatz legte – entgegen der Prognosen westlicher Experten – zu: China exportierte wieder deutlich mehr Waren und kaufte auch mehr in der Welt ein.
Mittlerweile hält das Pekinger Statistikamt sogar ein Wachstum von bis zu drei Prozent im Ende Juni abgelaufenen zweiten Trimester für möglich und der Internationale Währungsfonds IWF prognostiziert der – je nach Berechnungsweise zweitgrößten oder größten – Volkswirtschaft für das laufende Jahr eine Zunahme ihrer Jahreswirtschaftsleistung (BIP) um 1,0 Prozent. Das wäre zwar deutlich weniger als die sechs, sieben oder acht Prozent der vergangenen Jahre, aber immerhin ein Plus.
Trotz des anhaltenden Handelskrieges der USA stiegen auch Chinas Einfuhren US-amerikanischer Waren um 11,3 Prozent im Vergleich zum Juni 2019. Die Ausfuhren in die USA legten hingegen nur leicht um 1,4 Prozent zu. Angesichts eines drohenden weiteren Schrumpfens der Weltwirtschaftsleistung warnte Li Kuiwen von der staatlichen Zollverwaltung in Peking kürzlich dennoch vor einer »düsteren und komplizierten Situation in der zweiten Jahreshälfte«. Gewarnt wird in Peking auch vor einer neuen Ausbreitung des Coronavirus im kommenden Herbst und Winter.
So lange wird es in den USA freilich nicht mehr dauern. Die dortigen Lokalbehörden haben in den vergangenen beiden Wochen jeden Tag zwischen 60.000 und 77.000 nachgewiesene Neuinfektionen sowie Hunderte COVID-19-Todesfälle gemeldet. Betroffen sind vor allem die Bundesstaaten Florida, Georgia, Texas, Arizona und Kalifornien im Süden und Westen der USA.
Selbst Präsident Trump, der die jüngste Zuspitzung der Lage in weiten Teilen des Landes eher als »örtlich begrenztes Problem« heruntergespielt und trotzdem auf eine rasche Wiedereröffnung von Wirtschaft, Schulen und Universitäten gedrängt hatte, bezeichnete den Anstieg der Infektionszahlen nun immerhin als »besorgniserregend«. Und das ist schon wieder tiefgestapelt: Experten zufolge ist die Ausbreitung des Coronavirus in den betroffenen Gebieten in den USA inzwischen gänzlich außer Kontrolle. Auch andere Bundesstaaten melden seit Tagen eine Zunahme an Neuinfektionen.
Bisher ist es den USA mit ihrem vor zwei Jahren begonnenen Wirtschaftskrieg gegen China – inklusive Sanktionen und einer versuchten Teilblockade bei Hightech-Ausfuhren aus den USA – nicht gelungen, den Aufstieg der Volksrepublik zu stoppen. Sie erstarkt weiter, nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch im direkten Vergleich mit den USA.
Chinas Wirtschaftsleistung wächst schneller als die US-amerikanische – bereits im vergangenen Jahr um 6,1 Prozent gegenüber 2,3 Prozent. Schon Anfang dieses Jahres gingen viele Beobachter davon aus, daß Chinas BIP das der USA noch in diesem Jahrzehnt in absoluten Zahlen überholen wird. Berechnet nach Kaufkraftparität, also nach Abzug währungsbedingter Verzerrungen, hat es das schon längst. Alles spricht dafür, daß die Coronakrise diesen für das weltweite Kräfteverhältnis so überaus wichtigen Prozeß noch beschleunigen wird.
Oliver Wagner
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