Warum der »Pensionsvirus« um sich greift
Es ist eigentlich nicht normal, dass immer häufiger Schaffende, kaum dass sie 50 sind, den Tag regelrecht herbei sehnen, an dem sie endlich in den Ruhestand treten können. Wer glaubt, dass nur eine Minderheit solche Gedanken führt, liegt falsch. Denn die Zahl jener, die lieber heute als morgen ihren Pensionsantrag an die zuständige Kasse richten möchten, nimmt permanent zu. Dabei werden nicht nur Schaffende, die körperlich schwer arbeiten, von diesem »Pensionsvirus« infiziert. Nein, vom Wunsch, möglichst früh aus dem aktiven Leben treten zu können, werden immer größere Teile der Lohnabhängigen befallen.
Was ohne Zweifel auch seine Gründe hat. Angefangen bei den Arbeitsbedingungen, die sich aufgrund einer inzwischen vielfach kaum noch erträglichen Flexibilisierung sowie einer ständig zunehmenden Deregulierung der Arbeitszeitorganisation in den letzten Jahren massiv verschlechtert haben. Was zur Folge hat, dass nicht nur die Arbeit der Personalvertreter in den Betrieben deutlich an Volumen zugenommen hat, sondern auch die Beschwerden der Schaffenden in den Sprechstunden der Gewerkschaften immer zahlreicher und vielfältiger wurden.
Die einen klagen über längere Arbeitszeiten, öfters abgeänderte Schichtpläne oder Überstunden, die ihnen aufgezwungen, allerdings nicht als solche vergütet werden. Andere Beschwerden wiederum reichen von zunehmender Arbeit an den Wochenenden, dem Nichtgewähren freier Tage, dem Streichen von Ruhepausen bis hin zu rechtswidriger Lohnkürzungen bei einer Versetzung auf einen niedriger bezahlten Posten. Schwer zu schaffen machen vielen auch die neuen »Krankmacher« Murks, Stress und Hetze, die in so manchen Sektoren inzwischen zum Alltag gehören. Nicht vergessen sollte man bei dieser Aufzählung, dass auch Mobbing-Opfer von Tag zu Tag zahlreicher werden.
Wer sich den Order des Chefs nicht unterordnet, und sollten diese auch die Vorgaben für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz völlig missachten, gerät ins schiefe Licht und läuft Gefahr, bei der nächsten Gelegenheit seinen Job los zu sein. Dass das Patronat die Corona-Krise und die aktuelle katastrophale Situation auf dem Arbeitsmarkt ausnutzt, um den Druck auf die Schaffenden weiter zu verstärken, ist kein Geheimnis. Die Liste von Betrieben, in denen das der Fall ist, wird seit Wochen immer länger.
Was seit Jahren nicht geändert hat, ist die strikte Weigerung des Patronats, die Schaffenden endlich in größerem Maße an dem geschaffenen Mehrwert teilhaben zu lassen. Seit vielen Jahren schon ist eine moderate Lohnpolitik angesagt. Das hat zur Folge, dass aufgrund der während Jahren nur geringfügig gestiegenen Löhne, der explosionsartig gestiegenen Mietpreise, der Desindexierung von Familienleistungen und dem Nicht-Anpassen der Steuertabellen an die Preisentwicklung, Reallöhne und Kaufkraft der Schaffenden deutlich schrumpften.
So als würde das nicht schon genügen, nimmt das Patronat zusätzlich Lohnabhängige ins Visier, die Gesundheitsprobleme haben und angeblich zu oft krankgeschrieben sind. Wobei die schlechten Arbeitsbedingungen vielfach Auslöser besagter Erkrankungen sind.
Kein Wunder also, dass immer mehr Lohnabhängige so schnell wie möglich die »Flucht« in den Ruhestand antreten möchten. So überrascht es auch nicht, dass die Frage »Wie lange MUSST du noch?« bei Schichtwechsel und in Kaffeepausen immer öfter unter Arbeitskollegen gestellt wird.
gilbert simonelli
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