Freier Fuchs im freien Hühnerstall
Indiens Hauptstadt Neu-Delhi befindet sich seit Ende November in einer Art Belagerungszustand. Landarbeiter und Kleinbauern campieren auf den großen Zufahrtsstraßen an den Grenzen zu den umliegenden Bundesstaaten, um gegen Gesetze der hindunationalistischen Regierung von Premier Narendra Modi zu protestieren, die die Landwirtschaft des noch immer stark agrarisch geprägten Landes mit seinen fast 1,4 Milliarden Einwohnern weiter für den »freien Markt« öffnen sollen.
Doch nicht nur den Bauern, auch Indiens Arbeitern erklärte Modi den Krieg, als er ein Gesetzesprojekt zur »Reform« des Arbeitsrechts präsentierte, das unter anderem die Ausweitung des Normalarbeitstages auf zwölf Stunden vorsieht. So nahmen am 3. Dezember 250 Millionen Bauern und Arbeiter an einem der größten Streiks der Menschheitsgeschichte teil. Zu der eintägigen Arbeitsniederlegung, die sich auch gegen Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit richtete, hatten zehn der wichtigsten Gewerkschaftsverbände des Landes sowie 250 Bauernorganisationen und praktisch alle kommunistischen Parteien und Organisationen aufgerufen. Neben Stahlarbeitern und Kohlekumpel beteiligten sich auch Hafenarbeiter, Telekomarbeiter und schon länger gegen Privatisierungsvorhaben ankämpfende Bankangestellte. Auch Studenten, Taxifahrer und Schaffende aus anderen Sektoren nahmen an den landesweiten Protesten teil.
Immer wieder kam es zu Zusammenstößen mit der Staatsmacht, die unter anderem Tränengas und Wasserwerfer einsetzte. Doch es gab auch immer wieder Sympathiebekundungen für die Streikenden seitens der »Sicherheitskräfte«, bei denen es sich größtenteils um Söhne und Töchter der kämpfenden Bauern und Arbeiter handelt.
Die drei von Modi geplanten Agrargesetze sollen die Regeln für Verkauf, Preisgestaltung und Lagerung landwirtschaftlicher Erzeugnisse »liberalisieren«. Diese Vorschriften haben Indiens Bauern seit Jahrzehnten vor dem »freien Markt« geschützt. Bis heute verkaufen sie den Großteil ihrer Erzeugnisse auf vom Staat kontrollierten Mandis zu Basispreisen. Diese Großhandelsmärkte werden von den Bundesstaaten reguliert. Der Verkauf von Agrarrohstoffen kann bisher nur durch Versteigerung in den Mandis erfolgen.
Eine der größten Änderungen durch die von der Regierung geplanten Gesetze soll darin bestehen, daß Bauern ihre Produkte direkt an Privatunternehmen verkaufen können – zu einem Preis, der den Schwankungen des kapitalistischen Marktes unterliegt. Zwar dürfen Bauern in einigen Bundesstaaten bereits an Großhändler oder Supermarktketten verkaufen, doch sie befürchten, daß die Möglichkeit, landesweit außerhalb des »Mandi-Systems« zu verkaufen, letztlich zum Ende der Großmärkte und der staatlich garantierten Abnahmepreise führen wird.
Zwar hat Indiens Oberster Gerichtshof die Umsetzung der Agrargesetze zu Jahresbeginn »bis auf weiteres« ausgesetzt und einen Vermittlungsausschuß eingesetzt, da die Modi-Regierung jedoch bereits ausgeschlossen hat, die Neuregelungen komplett zurückzuziehen, haben die Manifestanten erklärt, ihre Proteste fortsetzen zu wollen. Für den gestrigen Tag der Republik hatte die in den Protesten führende Bauerngewerkschaft Jamhuri Kisan Sabha angekündigt, zwei Millionen Menschen auf die Straßen zu bringen. Sie wissen ganz genau: Die »Freiheit« der wirtschaftsliberalen Hindunationalisten ist der freie Fuchs im freien Hühnerstall.
Oliver Wagner
Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek – Unser Leitartikel: <br/>Freier Fuchs im freien Hühnerstall