Zurück auf die Straße
Solidarität ist Zukunft – das ist das Motto der DGB-Gewerkschaften zum diesjährigen 1. Mai, dem internationalen Kampftag der Arbeiterklasse, der in der BRD verschämt als „Tag der Arbeit“ bezeichnet wird. Anders als im vergangenen Jahr wird es dieses Mal neben einem digitalen Livestream auch wieder gewerkschaftliche Kundgebungen und Demonstrationen auf den Straßen und Plätzen geben. Die DGB-Aktivitäten vor Ort wie auch der Livestream sollen ein „Netz der Solidarität“ spannen mit Aktionsbildern aus vielen Städten sowie Statements von Gewerkschaftern aus ganz Deutschland.
Solidarität wird auch der rote Faden beim Livestream sein. Das Programm ist abwechslungsreich und beinhaltet Politik, Talks und Mitmachaktionen. Ein Höhepunkt wird sein, wenn der „größte Chor Deutschlands“ die Hymne der italienischen Partisanen und Kommunisten, „Bella Ciao“, anstimmt. Bis zum 18. April können selbst aufgezeichnete Gesangsvideos eingesendet werden. Dazu gibt es auf der Website des DGB (dgb.de) ein Karaoke-Video und einen für den 1. Mai umgedichteten Text als Vorlage.
Der rund 90-minütige Livestream wird aus der DGB-Zentrale in Berlin ab 14 Uhr über Facebook, YouTube und die DGB-Webseite gesendet werden.
Das wichtigste Signal, das vom diesjährigen 1. Mai ausgeht, findet aber nicht in der digitalen, sondern der analogen Welt statt. Es ist die Rückkehr des DGB auf die Straßen und Plätze. Der pandemiebedingte Verzicht auf Kundgebungen und Demonstrationen im letzten Jahr wurde von der Kapitalseite als Einladung zum Generalangriff auf soziale und demokratische Standards verstanden. Nun muss sich die gewerkschaftliche Gegenmacht wieder deutlich manifestieren.
Gründe, um auf die Straße zu gehen, gibt es mehr als genug: Während die großen Konzerne mit staatlichen Subventionen in dreistelliger Milliardenhöhe bedacht wurden, sollen Lohnabhängige, Rentner und Jugendliche die Zeche für Krise und die Kosten der Pandemiebewältigung zahlen. Continental, Bosch und Daimler sind nur drei prominente Beispiele in einer langen Reihe dafür, wie Konzerne die Gunst der Stunde nutzen, um schon lange geplante Umstrukturierungsmaßnahmen mittels Massenentlassungen und Werksschließungen durchzusetzen. Während die Aktionäre satte Dividenden erhalten, reicht das Kurzarbeitergeld der Beschäftigten häufig kaum zum Lebensunterhalt. Noch schlimmer trifft es das Millionenheer der Minijobber, die erst gar kein Kurzarbeitergeld erhalten und direkt ihren Arbeitsplatz verloren haben.
Auch Pflegekräfte, die im vergangenen Frühjahr mit Applaus bedacht wurden, müssen weiterhin ihre Arbeitskraft zu katastrophalen Bedingungen verkaufen. Anderen, wie den Beschäftigten im Einzelhandel oder Busfahrern, geht es nicht besser. Letzteren wurde sogar von den öffentlichen „Arbeitgebern“ ein bundesweit gültiger einheitlicher Tarifvertrag verweigert. Für die „Helden des Alltags“ sind Sonntagsreden offenbar Lohn genug.
Die Hoffnung der Beschäftigten in der Altenpflege auf eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung ihrer Tarifverträge wurde ebenfalls bitter enttäuscht. Für die 60.000 Erntehelfer aus Ost- und Südeuropa gibt es bis heute – mitten in der Pandemie – keine Krankenversicherung.
Millionen von Niedriglöhnern warten immer noch auf einen existenzsichernden Mindestlohn. Leiharbeit, Werkverträge, sachgrundlose Befristungen, betriebsratsfreie Zonen und Tarifflucht gehören weiterhin zum Arbeitsalltag von Millionen von Lohnabhängigen. Die Rente ab 67 ist nach wie vor bittere Realität. Die Umverteilung von unten nach oben schreitet auch in der Krise weiter voran.
Angesichts dieser Entwicklungen ist das Motto des DGB „Solidarität ist Zukunft“ zum 1. Mai gut gewählt. Denn Solidarität ist eine wirkungsvolle Waffe gegen kapitalistische Ausbeutung. Aber nur dann, wenn die Lohnabhängigen Solidarität als kollektives Handeln ihrer Klasse begreifen. Wird der Begriff Solidarität jedoch als „sozialpartnerschaftliches“ Mantra „Gemeinsam durch die Krise“ uminterpretiert, bleiben die bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse im Interesse der Herrschenden zementiert.
Quelle: UZ – Unsere Zeit – Zurück auf die Straße