24. November 2024

Die Ordnung in Wien

Kommentar von Tibor Zenker, Vorsitzender der Partei der Arbeit Österreichs (PdA), zur Polizeigewalt am 1. Mai 2021

Am 1. Mai dieses Jahres mussten wir in Wien – wieder einmal – einen brutalen Angriff der Polizei auf linke Kundgebungsteilnehmerinnen und ‑teilnehmer sowie Unbeteiligte erleben. Es war die autonom geprägte „May Day“-Demo, die von Ottakring zum Sigmund-Freud-Park im 1. Bezirk gezogen war, die dort zum Opfer untragbarer Polizeigewalt wurde. Die anwesenden Menschen – einige davon waren noch im Gefolge der Internationalistischen Maikundgebung, die zuvor ebenfalls am selben Ort geendet hatte, im Park – wurden von gut gerüsteten Polizisten mit Pfefferspray und Schlagstöcken attackiert, die Wiese wurde regelrecht gestürmt: Gänzlich wahllos wurde auf dort sitzende und liegende Personen eingedroschen, zum Teil kann man von einer richtigen Hetzjagd sprechen. Es gab 50 Verletzte, zwölf Verhaftungen und 450 Anzeigen. Dass dies das Wien des Jahres 2021 sein soll, erstaunt einigermaßen – aber auch nur auf den ersten Blick.

Was war nun also geschehen? Dass einige Aktivisten auf dem Baugerüst an der Votivkirche ein Transparent anbringen wollten, hat mit dem Polizeiangriff natürlich nichts zu tun. Eine solche Protestaktion ist vielleicht nicht erlaubt, aber sicher kein Anlass für eine polizeiliche Gewalteskalation. Zudem ist der eigentliche Votivpark samt Kirche vom Sigmund-Freund-Park durch eine vierspurige Straße getrennt. Nach Polizeidarstellung hätten sich die Beamtinnen und Beamte freilich lediglich „verteidigt“, sie seien zuerst „angegriffen“ worden – durch geworfene Glasflaschen. Man darf den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung bezweifeln, doch selbst wenn es so gewesen wäre, dann folgt daraus kein Anlass zum Rollkommando, sondern dann müsste man eben den/die Werfer/innen stellen und ggf. anzeigen. Wie sich aufgrund mehrerer Zeugenaussagen ergibt, dürfte es ohnedies ganz anders gewesen sein: Zivilpolizisten, die sich als Rechtsextreme „verkleidet“ hatten, haben offenbar Kundgebungsteilnehmerinnen und ‑teilnehmer mit Pfefferspray attackiert – und dies brachte die Ereignisse ins Rollen. Anders gesagt: Die Polizei schafft sich ihre vorgeschobenen Anlässe ohnedies selbst, was allerdings auch nichts Neues ist.

Die polizeiliche Gewaltorgie hat für ein gewisses mediales Aufsehen gesorgt, da auch ein paar unverdächtige Zeuginnen und Zeugen vor Ort waren, nämlich grüne Abgeordnete des Wiener Gemeinderats und Landtages. Diese sind zurecht erschüttert und empört, während bei der Sozialdemokratie wieder mal Schweigen im Wald vorherrscht: Aber man weiß ja, auf welcher Barrikadenseite die SPÖ im Zweifelsfall steht. Man kann oder könnte vieles bejammern: Die erstaunliche Diskrepanz zwischen den Polizeiaktionen gegenüber der Duldung illegaler „Anti-Corona-Demos“ mit Neonazi-Kern einerseits und friedlichen Maikundgebungen andererseits. Man weiß auch, wie viele Polizistinnen und Polizisten zur freiheitlichen AUF-„Gewerkschaft“ gehören – und die mit FSG-Mitgliedsbuch sind oft auch nicht viel besser. Der unappetitliche Terroranschlagversager und Kinderabschieber Nehammer im Innenministerium ist mehr als deplatziert, Polizeipräsident Pürstl sowieso, und was „Sicherheitsgeneraldirektor“ Ruf darstellen soll, ist überhaupt unklar. Aber die Grünen in der Bundesregierung haben das Innenministerium ja bereitwillig der ÖVP ausgeliefert – und schlucken aus verpeilter Koalitionsraison eh jede Krot. Man darf und muss Aufklärung und Konsequenzen aus dem Skandal vom 1. Mai verlangen – erwarten sollte man sich wohl nicht allzu viel.

Am Ende macht die Polizei ihren Job, nämlich den als Freund und Helfer des bürgerlichen Staates und der Kapitalherrschaft. Zu deren präventiver Absicherung werden nun mal die eigenen Gesetze, Bürger- und Menschenrechte nicht beachtet. Wer als bewaffnete Formation des Regimes am längeren Ast zu sitzen glaubt, schert sich auch nicht um Rechtsstaat und Verfassung. Als Backup hat man eine menschenverachtende Bundesregierung sowie im Zweifelsfall noch die Klassenjustiz, die schon die richtigen Leute verurteilen bzw. freisprechen wird, ergänzend die mit Millionen Euro aus Steuergeldern finanzierten Systemmedien, die für die richtige Stimmung in der Bevölkerung sorgen sollen. Das ist der Hintergrund der Polizeirepression und die Realität in der gegebenen Gesellschaft und in dessen Staatswesen.

Damit hat es auch seine „Richtigkeit“, wenn Rechtsextreme und Neonazis unbehelligt bleiben, während Linke verfolgt werden. Denn die Rechten sind keine Gefahr für die bürgerliche Ordnung und die Kapitalherrschaft, im Gegenteil: Ihr Ziel ist es, beides auf eine autoritäre oder gar faschistische Weise zu optimieren, nicht zu stürzen. Sie sind in Wirklichkeit ein Bündnispartner und als Faschismus die strategische Reserve des Kapitals, der konservativ-reaktionären Kräfte und des Militarismus. Im linken Spektrum ist es anders: Auf die eine oder andere Art geht es hier um die Überwindung des Kapitalismus. Und egal, wie weit die antikapitalistischen Kräfte gegenwärtig davon entfernt sind – dieses Ansinnen muss freilich schon im kleinsten Ansatz bekämpft und unterdrückt werden, durch Repression, Angriffe, Unterwanderung, mediale Hetze und Diffamierungen, die bereits in den Schulen beginnen, durch Kriminalisierung und nötigenfalls Illegalisierung. Und es spielt auch keine Rolle, ob es sich um autonome Gruppen, marxistisch-leninistische Organisationen oder maoistische Vereine handelt, ob diese mit tauglichen oder untauglichen Mitteln vorgehen – allein die Idee einer besseren Gesellschaft, Demokratie und Wirtschaftsform soll keine ungehinderte Verbreitung finden, Organisierungsschritte und große Kundgebungen sind freilich noch schlimmer für die Herrschenden. Kurz gesagt: Die Polizei weiß sehr genau, was sie tut. Es handelt sich keineswegs um Willkür, sondern um bewusstes und gezieltes Vorgehen.

Das hat sich auch seit über hundert Jahren nicht geändert: Nur einen Glasflaschenwurf vom Sigmund-Freud-Park entfernt, in der Hörlgasse, gab es am 15. Juni 1919 zwanzig tote kommunistische Demonstranten, als die Stadtwache des damals schon „roten (?) Wien“ in die Menge geschossen hat. Dass es nun am 1. Mai 2021 die autonome „May Day“-Demo getroffen hat, ist auch kein Zufall: Hier lassen sich am billigsten irgendwelche Märchen über gewaltbereite und/oder gewalttätige anarchistische Chaoten verbreiten, die das polizeiliche Vorgehen rechtfertigen sollen. Gemeint sind freilich alle: Wer die bürgerlich-kapitalistische Ordnung nicht als die beste aller Welten akzeptiert, muss mit Repression und Verfolgung rechnen. Doch diese Ordnung ist auf Sand gebaut. Sie hat die Gewalt, die Lüge und das Geld, aber auf Dauer werden sich die Menschen nicht einschüchtern, betrügen oder kaufen lassen.

Wir antworten mit Solidarität, Aufklärung und Widerstand, der sich weiterhin organisieren wird. Ein Ausbeutungs- und Unterdrückungssystem, das sich in Zeiten seiner tiefen Krise auf die brutale Gewalt der bewaffneten Staatsmacht stützt, ist dem Untergang geweiht. Vielleicht nicht seine Tage, aber seine Jahre sind gezählt. Heute herrscht die bürgerlich-kapitalistische „Ordnung“ in Wien, in Zukunft wird die Freiheit herrschen.

Quelle: Zeitung der Arbeit – Die Ordnung in Wien

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