21. November 2024

Zur Geschichte des 1. Mai

Text nach dem Manuskript eines Online-Vortrages von Tibor Zenker, Vorsitzender der Partei der Arbeit Österreichs (PdA), am 28. April 2021

Am 14. Juli 1889 – es war bewusst der 100. Jahrestag des Sturms auf die Bastille und somit gewissermaßen des Beginns der Französischen Revolution – trafen sich in Paris die Delegierten des Internationalen Arbeiterkongresses. Dieser war, wie sich zeigen sollte, auch der Gründungskongress der II. Internationale, nachdem sich die I. Internationale, die Karl Marx und Friedrich Engels wesentlich mitbegründet und geprägt hatten, ja 1876 endgültig aufgelöst hatte. Engels, inzwischen 69 Jahre alt, war 1889 zwar nicht vor Ort, aber in die Vorbereitungen involviert gewesen, während Marx zu diesem Zeitpunkt freilich schon seit sechs Jahren tot war.

An diesem einwöchigen Kongress nahmen rund 400 Delegierte aus über 20 Ländern teil. Die prominentesten Teilnehmer waren u.a. August Bebel, Wilhelm Liebknecht oder Georgi Plechanow sowie Clara Zetkin. Der Leiter der österreichischen Delegation war Victor Adler, dem erst ein halbes Jahr zuvor am Hainfelder Parteitag die Schaffung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) in Österreich gelungen war. Der Kongress gab sich eine sozialistische, im Wesentlichen marxistische Ausrichtung, er beschloss die – damals noch nicht so selbstverständliche – Gleichwertigkeit der Beteiligung der Frauen in der politischen Tätigkeit, und er plante einen internationalen Aktionstag zur Forderung nach dem 8‑Stunden-Tag.

Der französische Delegierte Raymond Lavigne stellte die diesbezügliche Resolution vor, die folgendermaßen lautete: „Es ist für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation zu organisieren, und zwar dergestalt, dass gleichzeitig in allen Städten an einem bestimmten Tage die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen (…) In Anbetracht der Tatsache, dass eine solche Kundgebung bereits von dem amerikanischen Arbeiterbund (…) für den 1. Mai 1890 beschlossen worden ist, wird dieser Zeitpunkt als Tag der internationalen Kundgebung angenommen.“

Die Amerikaner hatten nämlich ihrerseits angedacht, im Gedenken an die Ereignisse von 1886, einen Aktionstag abzuhalten: Ab dem 1. Mai 1886 waren in den USA in verschiedenen Städten über 400.000 Arbeiter mit der Forderung nach dem 8‑Stunden-Tag in den Streik getreten. In Chicago kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen, die im Allgemeinen als „Haymarket Riot“ bekannt sind und die staatlicherseits einer anarchistischen Gruppierung angelastet wurden, in Wirklichkeit aber v.a. Ausdruck der staatlichen Repression angesichts einer proletarischen Massenmobilisierung waren. Es gab Tote, Verwundete, Verhaftungen, Freiheitsstrafen und Hinrichtungen. Dies ist der historische Hintergrund, warum der 1. Mai ausgerechnet am 1. Mai ist. Ironisches Detail am Rande: Ausgerechnet in Nordamerika wird der „Labor Day“ nicht am 1. Mai, sondern am ersten Montag im September gefeiert.

Jedenfalls, am 1. Mai 1890 wurde erstmals der Tag der Arbeit begangen – und es hätte eigentlich ein einmaliges Ereignis sein sollen, doch die Umstände, die Erfolge führten vielerorts dazu, dass auch am 1. Mai 1891 Maikundgebungen abgehalten wurden (so auch in Wien). Der 2., der Brüsseler Kongress der II. Internationale beschloss daher im August 1891, ab 1892 alljährlich den 1. Mai als „Festtag der Arbeiter aller Länder, an dem die Arbeiter die Gemeinsamkeit ihrer Forderungen und ihre Solidarität bekunden“, zu begehen. Und so war es auch – und so ist es bis heute.

In Österreich fand die bedeutendste Mai-Kundgebung des Jahres 1890 in Wien statt – und zwar mit der größten Kundgebung, die das Land bis dahin je gesehen hatte und die auch weltweit große Beachtung fand. Friedrich Engels etwa schrieb damals:

„Die Maifeier des Proletariats war epochemachend nicht nur durch ihre Allgemeinheit, die sie zur ersten internationalen Tat der kämpfenden Arbeiterklasse machte. Sie hat auch dazu gedient, höchst erfreuliche Fortschritte in den einzelnen Ländern zu konstatieren. Feind und Freund sind einig darüber, dass auf dem ganzen Festland Österreich, und in Österreich Wien, den Festtag des Proletariats am glänzendsten und würdigsten begangen und die österreichische, voran die Wiener Arbeiterschaft sich damit eine ganz andere Stellung in der Bewegung erobert hat.“

Tatsächlich hatten sich – trotz Drohgebärden der österreichischen Staatsmacht und bürgerlicher Medien – über 100.000 Arbeiterinnen und Arbeiter am 1. Mai 1890 im Wiener Prater versammelt – und dies lediglich 16 Monate nach Schaffung der SDAP. Mehr und mehr wurde der kaiserlichen Regierung, dem Adel, dem Kapital und dem Großgrundbesitz klar, welche Macht, welche Kraft – und aus ihrer Sicht: welche Gefahr – in der Arbeiterbewegung steckte. In der „Arbeiterzeitung“ schrieb Victor Adler, der den 1. Mai 1890 übrigens wegen „anarchistischer (!) Umtriebe“ im Gefängnis verbracht hatte, mit süffisantem Ton und unter subtilem Hinweis auf die quantitativen Verhältnisse in der Gesellschaft:

„Er ist sehr schön, der 1. Mai, und die Tausende von Bourgeois und Kleinbürgern werden es den Hunderttausenden von Proletariern gewiss gerne vergönnen, sich auch einmal das berühmte Erwachen der Natur, das alle Dichter preisen und wovon der Fabrikszwängling so wenig bemerkt, in der Nähe zu besehen.“

Bis 1918 fand die zentrale jährliche Maifeier bzw. Kundgebung der österreichischen Arbeiterbewegung – bis dahin ja in der Sozialdemokratie vereint – im Wiener Prater statt, heute zeugt davon noch zweierlei: Im Wurtstelprater wurde – inmitten der Geister- und Achterbahnen – ein zentraler Weg in „Straße des 1. Mai“ benannt, und die Wiener SPÖ organisiert bis heute nach dem Maiaufmarsch im 1. Bezirk sodann am Nachmittag und bis in den Abend hinein im Prater ein Volksfest mit Gratiskonzerten, Kinderschminken, Alkoholmissbrauch usw. – gegenwärtig aufgrund der Corona-Pandemie freilich ausgesetzt. Vielleicht ja wieder 2022.

1919 hatte sich die Situation gravierend verändert: Das 1889 festgelegte Hauptthema des Achtstundentages war erreicht. Im Wiener Rathaus amtierte ein sozialdemokratischer Bürgermeister und am 25. April des Jahres wurde der 1. Mai zum Staatsfeiertag der neuen österreichischen Republik erklärt. Die SDAP wurde auf Bundesebene zunächst, bis 1920, zur staatstragenden Regierungspartei, in Opposition sodann immerhin zur mandatsstärksten Einzelpartei im österreichischen Nationalrat. Seit dieser Zeit – in genauer Form seit 1922 – führt die Sozialdemokratie ihren Maiaufmarsch über die Ringstraße zum Rathausplatz, wo auch 2021 immer noch ein SPÖ-Bürgermeister den Arbeitervertreter spielt.

1919 hatte sich jedoch auch noch etwas Anderes verändert. Mit der Gründung der III., der Kommunistischen Internationale war die zuvor halbwegs einheitliche Arbeiterbewegung in einen reformistisch-revisionistischen, also sozialdemokratischen, und einen revolutionären, also kommunistischen Teil zerfallen, was bezüglich des 1. Mai in aller Regel zu einem entsprechenden Nebeneinander führte. Die 1918 gegründete KPÖ führte ihre Maifeier und Kundgebung in den Jahren der 1. Republik meist vor der Votivkirche durch, in Erinnerung an das Blutbad in der nahegelegenen Hörlgasse vom 15. Juni 1919, als SP-Innenminister Eldersch auf eine kommunistische Demonstration hatte schießen lassen. Die Ausrichtung formulierte KPÖ-Vorsitzender Johann Koplenig am 1. Mai 1924 folgendermaßen: „In engster Kampfgemeinschaft mit dem Proletariat der Welt [demonstriert] heute die klassenbewusste Arbeiterschaft Österreichs gegen kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung.“

Im internationalen Rahmen gaben die Komintern-Parteien der Maifeier einen zusätzlichen Charakterpunkt: Zwar blieb der 1. Mai Kampftag der kommunistischen und Arbeiterparteien in den kapitalistischen Ländern, in den sozialistischen Ländern – zunächst in der UdSSR, dann, nach 1945, in den osteuropäischen Volksrepubliken – wurde der 1. Mai aber auch zum Feiertag des Sozialismus. Gleichzeitig wurden Maikundgebungen auch immer wieder Ziele der Reaktion und Konterrevolution, genannt seien exemplarisch die blutigen Ereignisse von Berlin 1929 oder von Istanbul 1977.

Von 1933 bis 1944, in der Zeit der beiden faschistischen Diktaturen, gab es in Österreich freilich keine Maiaufmärsche im eigentlichen Sinn. Zunächst gelang es dem christlichsozialen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, im März 1933 den Nationalrat und in der Folge teilweise die Opposition auszuschalten. Dies führte bekanntlich zu den Februarkämpfen 1934 und zur Errichtung des austrofaschistischen Ständestaates in Österreich. Bereits für den 1. Mai 1933 erließ die Regierung Dollfuß ein Verbot der Maikundgebungen der SDAP und der KPÖ. Die Sozialdemokraten verlegten sich auf symbolische „Spaziergänge“ – ordnungsgemäß auf dem Gehsteig und nur außerhalb des 1. Bezirks, aber dafür mit roten Stecktüchern in den Brusttaschen. Außerdem hielt Bürgermeister Seitz eine Rede im Praterstadion (heute: Ernst-Happel-Stadion), fernab der gesperrten Innenstadt – aber eben wiederum im Prater.

Die KPÖ – und mit ihr der bereits illegalisierte KJV – trotzte den Austrofaschisten etwas vehementer und hielt am 1. Mai 1933 in mehreren Bezirken Maifeiern in Lokalen und kleine Kundgebungen auf der Straße ab. Heimwehrführer Emil Fey – inzwischen „Sicherheitsstaatssekretär“ – reagierte mit Razzien und Verhaftungen von hunderten KPÖ-Mitgliedern. Schon hier zeichnete sich ab, dass die Kommunistinnen und Kommunisten die schärfsten Gegner des Faschismus sein würden. Ende Mai 1933 untersagte das Regime der KPÖ bereits jegliche legale Tätigkeit, während die SDAP bekanntlich erst am 13. Februar 1934 verboten wurde.

Ein Jahr später wurde – natürlich nicht zufällig am 1. Mai 1934 – die austrofaschistische Verfassung eingeführt und damit ein neuer Inhalt für diesen Feiertag geschaffen, der dem Regime zugutekommen sollte. Der kommunistische und sozialistische Widerstand beging den 1. Mai bis 1937 im Untergrund: Mit „Blitzdemonstrationen“ und Flugblätterstreuungen in den Wiener Bezirken, mit roter Beflaggung von Laternenmasten und Schornsteinen, mit antifaschistischem Graffiti und Geheimversammlungen im Wienerwald.

Die Bedingungen änderten sich abermals 1938, nach der Okkupation und Annexion Österreichs durch Deutschland: Hier war der 1. Mai seit 1933 der „Tag der deutschen Arbeit“, inklusive einer entsprechenden Umdeutung durch das faschistische NS-Regime. Und so blieb es bis zum 1. Mai 1945, als der Weltkrieg zwar noch nicht beendet, aber Wien schon von der Roten Armee der Sowjetunion befreit worden war. Bereits an diesem 1. Mai gab es an mehreren Orten in Wien wieder Maifeiern, z.T. gemeinsam von allen drei demokratischen Parteien – SPÖ, ÖVP und KPÖ – abgehalten, eine große Kundgebung war jedoch noch nicht möglich.

Nachdem der 1. Mai im Laufes des Jahres 1945 wieder als Staatsfeiertag bestätigt worden war, nahmen die SPÖ-Kundgebungen und Feierlichkeiten ab 1946 auch wieder ihre „normale“ Form an, die im Wesentlichen bis heute gleich blieb, wenngleich mit stetig abnehmender Teilnehmerzahl (in der 1. Republik bis zu 400.000, 1946: 200.000, heute deutlich unter 100.000) – d.h. die Bezirkszüge versammeln sich über die Ringstraße zum Aufmarsch vor dem Wiener Rathaus, wo in aller Regel Bürgermeister, Parteivorsitzende/r und ÖGB-Präsident vom Podium winken. Die KPÖ ihrerseits versammelte sich am 1. Mai 1946 am Schwarzenbergplatz (damals: Stalinplatz) und zog über die Ringstraße zum Parlament – ebenfalls eine Route, die mit Nuancen ähnlich blieb (gegenwärtig ist der KPÖ-Treffpunkt am Albertinaplatz, womit der Weg etwas verkürzt wurde).

Seitens der kommunistischen Parteien blieb in den Jahren bis 1989/90 der 1. Mai zentraler Kampf- und Feiertag, besonders eindrucksvoll natürlich in Moskau oder auch, bis heute, in Havanna – und in Wien eben im Rahmen der Möglichkeiten. Dieser Rahmen war jedoch ein durchaus wandelbarer, zwischenzeitlich ein bemerkenswerter, schließlich aber v.a. ein abnehmender: Im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg verfügte die KPÖ über bis zu 150.000 Mitglieder, dementsprechend versammelten sich zu ihrem Wiener Maiaufmarsch 1950 an die 50.000 Menschen unter den Losungen für die Einheit der Arbeiterschaft, für Solidarität mit der Sowjetunion und für Frieden. 1960 war die Mitgliederzahl der KPÖ aber schon wieder auf die Hälfte geschrumpft, 1970 waren es ca. 20.000 Mitglieder, im Laufe der 1980er Jahre noch 10.000. Und danach ging es abermals rapide bergab.

Mit dem Sieg der Konterrevolution in der UdSSR und den sozialistischen Staaten Europas geriet auch die kommunistische Weltbewegung zu Beginn der 1990er Jahre in eine Krise, v.a. in Europa. Manche kommunistische Parteien verwandelten sich in sozialdemokratische Parteien – so z.B. die Italienische KP –, andere erneuerten sich auf marxistisch-leninistischer Grundlage – so z.B. die KP Griechenlands; wiederum andere suchten einen Mittelweg auf linksbeliebiger, bestenfalls reformistisch-opportunistischer Basis – so z.B. die KPÖ. Dementsprechend gab es seither neue Differenzierungen in der kommunistischen Bewegung, wie man sie bis dahin gekannt hatte. In Österreich implizierte dies eine Neubewertung der Verhältnisse im nominell kommunistischen Bereich, und in weiterer Folge die Gründung der Kommunistischen Initiative (KI) 2005 sowie der Partei der Arbeit (PdA) 2013.

Und deshalb sind wir im Wien des Jahres 2021 auch dort, wo wir am 1. Mai stehen werden. Der SPÖ bleibt es Pandemie-bedingt heuer wie letztes Jahr erspart, sich vor dem Rathaus mit schwindender, aber immer noch relevanter Teilnehmerzahl von Zigtausenden als Arbeiterpartei zu inszenieren – sie wird dies gewiss wieder aufnehmen. Und die KPÖ steht mit einer dramatisch reduzierten – aber immer noch mehrfach dreistelligen – Unterstützerzahl vor dem Parlament und will den Kapitalismus in eine solidarische Gesellschaft im Rahmen der imperialistischen EU transformieren. Aber immerhin: Seit 2006, damals maßgeblich initiiert von der KI, gibt es in Wien die Internationalistische Bündnisdemo, an der auch heuer wieder u.a. die PdA, die KJÖ und die Kommunistische Gewerkschaftsinitiative (KOMintern) sowie nicht zuletzt größere migrantische Arbeiterorganisationen teilnehmen werden – bei immerhin vierstelliger Teilnehmerzahl und einem Abschluss am historischen Ort vor der Votivkirche, wo die Grünfläche inzwischen den Namen Sigmund-Freud-Park trägt.

Und es gilt – dies zum Schluss –, was Rosa Luxemburg 1894 über den 1. Mai schrieb:
„Der 1. Mai verkündet die Losung des achtstündigen Arbeitstages. Aber auch nach der Erlangung dieses Zieles wird die Maifeier nicht aufgegeben. Solange der Kampf der Arbeiter gegen die Bourgeoisie und die Regierung währen wird, solange noch nicht alle Forderungen erfüllt sein werden, wird die Maifeier der alljährliche Ausdruck dieser Forderungen sein. Wenn aber bessere Zeiten dämmern werden und die Arbeiterklasse ihre Erlösung in der gesamten Welt erlangt haben wird, auch dann wird wahrscheinlich, zum Gedenken an die ausgefochtenen Kämpfe und an die erlittenen Leiden, die Menschheit den 1. Mai festlich begehen.“

Quelle: Zeitung der Arbeit – Zur Geschichte des 1. Mai

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