Die Krise steigert den Druck
Anfang der Woche fand ein weiteres Protestpiquet des Einzelhandelsyndikats des OGBL statt. Vor dem Mittelstandsministerium versammelten sich Beschäftigte mit ihren Syndikatssekretären, um ihrem Unmut darüber Luft zu machen, daß immer mehr Einzelhandelsunternehmen den hierzulande lange Zeit als Heiligenbildchen herumgetragenen »Sozialdialog« nicht mehr respektieren und Feiertagsöffnungen ihrer Geschäfte ohne Absprache mit den Gewerkschaften oder dem Ministerium durchziehen.
Dies ist nur das aktuellste Beispiel über den zunehmenden Druck auf die Beschäftigten. Denn beispielsweise beim Stahlkonzern Liberty Steel brennt ebenfalls die Hütte: Der Besitzer der Gruppe läßt sich von den Arbeitern ein Luxusleben finanzieren, während diese um ihre Arbeitsplätze bangen müssen.
Dies sind zwei Beispiele, bei denen der gewerkschaftliche Widerstand stark ist. Es gibt allerdings immer noch zu viele Lohnabhängige, die nicht organisiert sind und ihren Bossen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. In diesen Zeiten, wo Unternehmen unter dem Vorwand der Corona-Krise jede Möglichkeit nutzen, um soziale Errungenschaften in den Betrieben einzukassieren, eine gefährliche Situation.
Das Verständnis, daß die erreichten sozialen Errungenschaften in den Betrieben von den Generationen vor uns hart erkämpft wurden und keine Selbstverständlichkeit oder gar unternehmerische Gutherzigkeit darstellen, geht leider verloren. Das liegt vor allem an der gezielten Entpolitisierung der Arbeiterbewegung und eben dem Mantra der »Sozialpartnerschaft« der vergangenen Jahrzehnte, welches den Beschäftigten mehr und mehr signalisierte, es ginge schon alles von selbst.
Die Tradition, betriebliche Mitbestimmung, Arbeitszeitverkürzung und andere Forderungen mit Druck als Masse von der Straße her durchzusetzen, sind in den Köpfen nicht mehr präsent. Deshalb war der 1. Mai 2021 in Esch/Alzette ein wichtiges Zeichen. Viele Passanten, die den Feiertag zum Flanieren nutzten, wunderten sich über den Aufzug und es kam vereinzelt zu Unmut über gesperrte Straßen. Ein Zeichen, daß eine Auffrischung des gewerkschaftlichen Bewußtseins dringend geboten ist.
Dabei wäre es gerade jetzt, wo viele der angesprochenen Errungenschaften scheibchenweise zurückgenommen werden sollen, an der Zeit, sich darauf zu besinnen, welche Wirkung und welchen Wert die Organisation in einer Gewerkschaft hat. Seine eigenen Ideen in Gewerkschaftspolitik mit einzubringen und in der Masse stark zu sein, Druck zu machen.
Gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte, Schüler, Studenten und Rentner sind, trotz manch sprachlicher Barriere hierzulande, deutlich schwerer zu spalten. Gerade in der aktuellen Situation ist es wichtig, deutlich zu machen, daß die Krise nicht so einfach auf die Lohnabhängigen abzuwälzen ist.
Dazu gehört, zu verstehen, daß eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf Basis der demographischen Entwicklung falsch und patronatsfreundlich ist. Dazu gehört, zu verstehen, daß eine Forderung nach kürzerer Wochen- und Lebensarbeitszeit nicht weniger Einkommen bedeutet und daß Mitbestimmung im Betrieb keine Bittstellerei, sondern ein legitimes Recht ist. Die Menschen investieren ihre Arbeitskraft und ihre Lebenszeit, um ein Auskommen zu verdienen. Eigentlich sind die »Arbeitnehmer« in Wahrheit die Arbeitgeber. Dieser Begriff allein zeigt, wie die Bewegung in den letzten Jahrzehnten entschärft wurde.
Darum sollte der finanzielle Beitrag einer Gewerkschaftsmitgliedschaft keine Hürde sein, wenn es darum geht, etwas zu bewegen. Die sozialen Errungenschaften früherer Generationen dürfen nicht auf dem Silbertablett präsentiert werden.
Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek – Die Krise steigert den Druck