Angriff abgewehrt
Nach fast einem halben Jahr Tarifverhandlungen für den Einzel- und Versandhandel ist es Ende September in Hessen zu einem ersten Abschluss gekommen. Wie ver.di-Verhandlungsführer Bernhard Schiederig mitteilte, werden die Löhne für die Beschäftigten im hessischen Einzelhandel rückwirkend zum 1. August 2021 um 3 Prozent angehoben. Zum 1. April 2022 erfolgt eine weitere Lohnerhöhung um 1,7 Prozent. Die Laufzeit des Tarifvertrags beträgt 24 Monate, gerechnet ab dem Auslaufen des bisherigen Tarifvertrags. Damit stehen die nächsten Verhandlungen schon in anderthalb Jahren an.
Schiederig war nicht in Jubellaune, er sprach lediglich von einem „akzeptablen“ Abschluss. ver.di hatte eine Gehaltserhöhung von 4,5 Prozent plus 45 Euro gefordert, zudem eine Anhebung der untersten Gehaltsstufen auf mindestens 12,50 Euro pro Stunde. Angesichts der steigenden Inflationsrate wäre selbst das nicht viel mehr als eine Bewahrung der Reallöhne gewesen.
Trotzdem spuckt der Unternehmerverband HDE Gift und Galle. ver.di habe die Branche „erpresst und in Teilen überfordert“, kommentierte der Handelsverband am 29. September per Pressemitteilung. Die „Arbeitgeber wurden durch massive Streikaktivitäten in verantwortungsloser Art und Weise zu diesem für viele Nicht-Lebensmittelhändler überfordernden Tarifabschluss gezwungen“, jammert das Kapital. Die Gewerkschaft zog sich diesen Schuh natürlich nicht an. „Der HDE hat monatelang eine Tariflösung mit längst fälligen Entgelterhöhungen für die Beschäftigten blockiert. Nun kommt der gleiche Verband mit unhaltbaren Vorwürfen um die Ecke“, so Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter für den Einzelhandel. Die Beschäftigten kämpften um sichere Arbeit und gute Löhne. „Das Recht, dafür zu streiken, ist grundgesetzlich verankert. Der HDE muss dieses Grundrecht anerkennen, statt gegen die berechtigten Forderungen der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft zu schießen, sonst macht er sich lächerlich“, so Akman.
Die Unternehmer hatten von den Beschäftigten letztlich die Aufgabe des Flächentarifvertrags verlangt. Sie sollten eine „Differenzierung“ zwischen solchen Unternehmen hinnehmen, die „gut durch die Pandemie gekommen“ seien – sprich: Rekordgewinne machen konnten – und solchen, die durch die Lockdowns weniger Profite machen konnten. Die Gewerkschaft hat das von Anfang an zurückgewiesen und sich letztlich durchgesetzt. Möglich wurde das durch einen langen Atem – und viele Streiks, an denen sich zehntausende Beschäftigte beteiligt haben.
Vor allem die Ketten aus dem Lebensmittelhandel, die während der Pandemie nie geschlossen waren und Rekordumsätze verzeichnen konnten, hatten zwischenzeitlich versucht, die Streikfront durch einseitig verkündete Lohnerhöhungen zu schwächen. Zwischen 2 und 3 Prozent mehr zahlten die Unternehmen ab dem 1. Juli – doch auch in ihren Läden gingen die Streiks und Proteste weiter.
Dabei ist die Lage für die Gewerkschaft im Handel nicht einfach. Vor allem im Frühjahr waren Versammlungen und Kundgebungen wegen Corona kaum möglich, die Mobilisierung musste über Videokonferenzen laufen. Hinzu kommen die strukturellen Probleme der Branche: Die meisten der gut drei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel – in ihrer großen Mehrheit Frauen – sind nur in Teilzeit angestellt, müssen zugleich aber extrem lange Arbeitstage bewältigen. In manchen Bundesländern sind die Geschäfte bis Mitternacht geöffnet. Angesichts der geringen Löhne sind viele gezwungen, Zweit- und Drittjobs anzunehmen, um über die Runden zu kommen.
Auch nach dem Durchbruch in Hessen geht der Arbeitskampf bislang weiter. Da die Tarifverhandlungen auf der Ebene der Bundesländer geführt werden, müssen sich Gewerkschaft und Unternehmer in allen anderen Regionen noch auf eine Übernahme des ersten Abschlusses einigen. Einige Landesbezirke haben außerdem spezifische Zusatzforderungen aufgestellt, über die zu reden sein wird. Und dann gibt es da noch die vielen Unternehmen, die sich den Tarifverträgen entzogen haben. So rief ver.di in Nordrhein-Westfalen am vergangenen Freitag die Beschäftigten der Parfümeriekette Douglas zum Streik für die Rückkehr in die Tarifbindung auf. „Während die Beschäftigten in der Pandemie den Laden am Laufen halten und sich nicht nur im Lockdown auf immer neue Systeme wie ‚Click&Collect‘ eingestellt haben, baut Douglas seine Strukturen um und verkleinert nach und nach das Filialnetz. Beschäftigte werden vielerorts nicht weiterbeschäftigt und bangen um ihre Zukunft. Zeitgleich verweigert der Arbeitgeber die Bezahlung nach den Flächentarifverträgen des Einzelhandels. Argumentiert wird damit, dass bereits mindestens nach Tarif gezahlt würde. Dieses Argument lassen wir aber nicht gelten! Die Beschäftigten brauchen verlässliche Einkommenserhöhungen durch Tarifverträge und kein Goodwill des Arbeitgebers“, erklärte die nordrhein-westfälische Verhandlungsführerin Silke Zimmer.
Quelle: UZ – Unsere Zeit – Angriff abgewehrt