Eine tiefe Krise der EU
Die Europäische Union verheddert sich wieder einmal in einer Krise, die sie selbst verursacht hat. Die Flüchtlinge, die über Belarus in Länder der EU drängen, machen deutlich, wie tief diese Krise ist.
Die Menschen, die an den Grenzen von Polen und Litauen nicht nur durch NATO-Draht, sondern auch von Tränengas und Wasserwerfern bei Minusgraden aufgehalten werden, die von Polizisten, Grenzschützern und Militärpolizei am Überschreiten der Grenze gehindert und auch mit brutaler Gewalt zurückgedrängt werden, kommen aus Ländern, die von Krieg, Krisen und Massenarmut gekennzeichnet sind. Die Kriege in Afghanistan, im Irak, in Syrien wurden und werden von Polen und Lettland wie auch von allen anderen EU- und NATO-Staaten geführt oder zumindest unterstützt. Die Krisen in diesen Ländern sind zum großen Teil Folge der Politik der EU und der NATO, und in Ländern wie Syrien, Libanon oder Afghanistan wird diese Krise durch politisch motivierte Sanktionen und Embargos zusätzlich verschärft.
Menschen haben schon immer versucht, einen Ausweg aus Elend und Not durch Flucht in andere Regionen der Welt zu finden. Die Suche nach einem besseren Leben war Grund für die massenhafte Auswanderung von Menschen aus Europa auf den Kontinent Amerika. Das ist heute nicht anders.
Tatsächlich werden in den EU-Ländern viele Arbeitskräfte aus anderen Ländern gesucht. Große Massenauswanderungen gibt es sogar innerhalb der EU seit dem Beginn der bis heute nicht überwundenen Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008, als qualifizierte Arbeitskräfte hunderttausendfach aus Ländern wie Portugal, Spanien, Italien oder Griechenland emigrierten, um in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Britannien und auch Luxemburg ein besseres Leben zu finden. Diese Massenflucht innerhalb der EU wird öffentlich kaum thematisiert, sie gehört zur gewöhnlichen Praxis im gewöhnlichen Kapitalismus.
Mit der massiven Ankunft von Elendsflüchtlingen ist die EU allerdings total überfordert. Seit Jahren gelingt es nicht, eine Linie zu finden, die man auch nur annähernd als Flüchtlingspolitik bezeichnen könnte. Fast immer wird die Schuld an den Flüchtlingsströmen bei den Schleusern gesucht. Die jedoch haben einerseits die Flucht nicht verursacht, und andererseits tun sie nichts anderes als das, was zu gewöhnlichen Kapitalismus gehört, nämlich Menschen als Ware zu betrachten, aus der man Profit schlagen kann.
Auch die gegenwärtige Krise an den belarussischen Grenzen ist hausgemacht. Die Sanktionspolitik gegen Belarus hat letztlich dazu geführt, daß die Regierung in Minsk nicht mehr als Türsteher für die EU herhalten will. Und wer Gespräche mit Präsident Lukaschenko verweigert, kann auch kaum auf eine sachdienliche Lösung hoffen. Stacheldraht an der Grenze zu Serbien wurde von der EU als Grund genutzt, um Vorwürfe gegen Ungarn zu erheben. Das Zurückstoßen von Flüchtlingen (»Pushbacks«) wird griechischen Grenzern vorgehalten. Genau das passiert jetzt an der polnischen Grenze, mit Unterstützung der EU.
Für das erzkonservative Regime in Warschau wie auch für die EU-Kommission ist das eine wunderbare Gelegenheit, von den tatsächlichen Problemen abzulenken und wieder einmal die Schuldigen in Minsk und in Moskau zu suchen.
Den Preis für die verfehlte Politik haben wie immer die Leute zu tragen, die die Krise nicht verursacht haben – sowohl die Flüchtlinge an der Grenze der EU als auch die Lohnabhängigen in den Ländern der EU.
Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek – Eine tiefe Krise der EU