Mit zweierlei Maß
Als 2015/16 Zehntausende Menschen, die meisten aus dem Irak und Syrien, über die Türkei und die so genannte »Balkan-Route« nach Zentraleuropa zogen, wurden sie – zumindest am Anfang – mit offenen Armen aufgenommen. Ähnlich wie jetzt auch Weißrußland hatte damals die Türkei die Menschen nicht aufgehalten. Als aber die ersten EU-Staaten begannen, Zäune zu errichten und Militär, Grenzpolizei oder private Sicherheitsfirmen gegen die Menschen einsetzten, als Ende 2015 bereits 860.000 Menschen auch über das Mittelmeer nach Italien oder Griechenland kamen und viele Menschen dabei ihr Leben verloren, bot die EU der Türkei Geld an, um die Schutzsuchenden zu stoppen.
6 Milliarden Euro sollte die Türkei erhalten, um die in Flüchtlingslagern der Türkei lebenden 4 Millionen Syrer an der Weiterreise zu hindern. Für jeden abgeschobenen syrischen Flüchtling aus Griechenland sollte ein asylsuchender Syrer aus einem der türkischen Flüchtlingslager in der EU aufgenommen werden. Die Fluchtrouten aus der Türkei wurden versperrt, wer sich dennoch auf den Weg machte, ging ein großes Risiko ein.
Die EU brauchte die Türkei damals aus verschiedenen Gründen. De facto war die Türkei Verbündeter von EU, NATO und den USA im Kampf gegen den syrischen Präsidenten Assad. Als Wächter und gleichzeitig Besatzer der syrisch-türkischen Grenze kam der Türkei eine wichtige Rolle zu. Waffen und Kämpfer, Hilfsgüter und westliche Journalisten mußten nach Syrien geschmuggelt werden. Umgekehrt nahm die Türkei syrische Flüchtlinge auf, darunter viele gut ausgebildete Fachkräfte, die Syrien heute fehlen. Der gut dotierte »Abschreckungsdeal« sollte die Türkei zudem dazu bringen, sich von Rußland ab- und der EU und der NATO wieder zuzuwenden.
Bei Weißrußland mißt die EU mit einem anderen Maß. In Brüssel ist das Land als feindlicher Staat markiert. Eine von der EU und den USA unterstützte und finanzierte Protestbewegung in Weißrußland wurde eingedämmt und zum großen Teil aus dem Land gedrängt. Darüber hinaus hat oder sucht Präsident Lukaschenko die Nähe zu Rußland und zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Das bietet denjenigen, die ein freundschaftliches Verhältnis zwischen EU und Rußland verhindern wollen, genügend Grund, nicht nur Lukaschenko, sondern auch »den Kreml« dafür verantwortlich zu machen, daß Schutzsuchende durch Weißrußland an die östliche EU-Grenze kommen.
Anders als 2015/16 wird die EU-Außenpolitik inzwischen von militärischen Interessen der NATO bestimmt. Die Aufrüstung entlang der östlichen Grenze richtet sich gegen Rußland, das von höchsten Stellen der EU-Institutionen, der NATO und in deutschen Leitmedien als »Bedrohung und Quelle von Desinformation« diffamiert wird.
Auf der Suche nach Perspektiven
Die Schutzsuchenden an der östlichen EU-Außengrenze unterscheiden sich dagegen kaum von den Menschen, die 2015/16 auf einem anderen Weg in die EU kamen und dort aufgenommen wurden. Sie haben sich und ihr Schicksal Schleusern anvertraut, haben oft Haus und Auto verkauft, um die hohen Geldsummen aufzubringen, die bezahlt werden müssen. Viele der Schleuser sind tatsächlich Angehörige der Migranten, die ihre Verwandten nach Europa holen wollen. Daß der Familiennachzug auf diese menschenunwürdige Weise geschieht, liegt auch daran, daß die EU-Staaten ein normales Visa- und/oder Asylverfahren in den Herkunftsländern der Menschen, die nicht über entsprechende Beziehungen verfügen, d.h. für Unternehmen oder Institutionen aus den EU-Ländern gearbeitet haben, fast aussichtslos ist.
Familien, die ihre Kinder zum Studium zum Beispiel nach Deutschland schicken wollen, oder Fachkräfte, die eine Fortbildung antreten wollen, müssen mindestens 12.000 Euro auf ein Konto in Deutschland überweisen, zwei Sprachprüfungen in einer deutschen Botschaft und dem Goethe-Institut bestanden, einen Platz in Deutschland und einen Wohnort nachweisen können, wenn sie überhaupt eine Chance erhalten sollten. Syrer, die das anstreben, müssen zur deutschen Botschaft in Beirut (Libanon) oder Amman (Jordanien) reisen. Das wiederum kann sich aufgrund der hohen Kosten nicht jeder leisten.
Mehr Chancen haben Menschen, die sich lange genug als Flüchtling im Libanon beispielsweise durchgeschlagen haben und beim UNHCR, dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge registriert wurden. Sie können den Libanon Richtung Berlin verlassen, die ersten 112 werden jetzt im November erwartet. Gastgeberin ist Sozialsenatorin Elke Breitenbach, die sich bereits im Oktober gegenüber der Deutschen Presseagentur geäußert hatte. Pro Jahr stünden 100 Plätze für mißhandelte Frauen, Traumatisierte, für Kinder und Jugendliche zur Verfügung. Die handverlesenen Personen werden vom UNHCR ausgewählt und vorgeschlagen. Sie werden in Videointerviews befragt und – im Libanon – vom jeweils zuständigen deutschen Landeskriminalamt, von Beamten des deutschen Verfassungsschutzes und der Bundespolizei einer »Sicherheitsprüfung« unterzogen. Sind diese Prüfungen erfolgreich überstanden erteilt die deutsche Botschaft in Beirut ein Visum zur Einreise. In einem aktuellen Bericht des Berliner Senats wurden die Kosten für das Überprüfungsverfahren im Libanon mit 220.000 Euro angegeben.
Für Menschen, die aus einem der Flüchtlingslager der Nachbarländer nach Syrien zurückkehren möchten, gibt es keine Unterstützung.
Politische Intrigen in der EU
Weißrußland hält die Reisenden nicht auf und versorgt die Menschen, die an der Grenze ausharren mit Wasser, Nahrungsmitteln und warmer Kleidung. Präsident Lukaschenko ist sich gleichwohl des Dilemmas bewußt, das dadurch für die EU entsteht. Das Ziel des weißrussischen Präsidenten ist, daß die EU ihren politischen Druck auf das Land und vor allem die politischen und die politisch motivierten Wirtschaftssanktionen aufhebt. Würde die EU mit ihm reden und die Sanktionen lockern und aufheben, wäre er sicherlich zu einem Einlenken bereit.
Lukaschenko weiß, daß Polen sich seit Jahren weigert, Flüchtlinge aufzunehmen, als EU-Mitgliedstaat aber den »Werten und Rechten« der EU verpflichtet ist. Gleichzeitig hat sich Polen als Scharfmacher gegen Weißrußland hervorgetan und sorgt mit einer mehrfachen Absperrung mit NATO-Draht, mit Wasserwerfern und Tränengas und dem Aufmarsch von Grenzpolizei und Armee für martialische Bilder.
Polen hatte seit dem Sommer bis zu 5.000 Menschen, die zumeist nach Deutschland wollten, durchreisen lassen. Sie wurden von Schleppern, die sich als Angehörige ausgaben – oder das vielleicht auch waren –, mit privaten Fahrzeugen oder Kleintransportern abgeholt und konnten unauffällig passieren. Das änderte sich, als der Druck der EU sich gegen Polen erhöhte, Justizreformen umzusetzen. Polen weigerte sich, der Europäische Gerichtshof verhängte Ende Oktober dann ein Bußgeld von 1 Millionen Euro, die Polen pro Tag bezahlen sollte.
Weder die EU noch Polen werden offiziell einräumen, daß die innereuropäischen Unstimmigkeiten zumindest ein Hintergrund der aktuellen Krise an der Grenze sein könnten. Die erzkonservative Führung Polens nutzt die Situation, um den Druck der EU gegen sich zu durchkreuzen. Die Skandalisierung der Lage der Migranten an der Grenze und die Anrufung der NATO sorgen für eine militaristische Wende einer humanitären Krise, die durch die Verbarrikadierung der Grenze seitens Polen und durch den Unwillen der EU, die eigenen Menschenrechtsstandards an der EU-Grenze einzuhalten, erst entstanden ist. Solange die EU-Institutionen und die NATO darauf beharren, daß Weißrußland und die Russische Föderation für das Dilemma an der Grenze verantwortlich seien, und solange die EU zu konstruktiven Gesprächen nicht bereit ist, wird die Lage sich verschärfen. Schon jetzt haben die Menschen verloren, die nichts ahnend in einen gefährlichen Machtpoker geraten sind.
Vom Friedensnobelpreis zum Machtanspruch
Es ist weniger als zehn Jahre her, daß die EU 2012 den Friedensnobelpreis erhielt. In der Begründung hieß es, es sei nach dem Zweiten Weltkrieg in sechs Jahrzehnten »gelungen, Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa voranzubringen«. Die EU habe eine »stabilisierende Rolle« dabei gespielt, Europa aus einem Kontinent des Krieges in einen »Kontinent des Friedens« zu verwandeln. Ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich sei undenkbar geworden, so das Nobelpreiskomitee damals. »Das zeigt, wie gegenseitiges Vertrauen aufgebaut und aus historischen Feinden enge Partner werden können.«
Was an der östlichen Grenze der EU geschieht, ist das Gegenteil davon. Die EU hat einen Schulterschluß mit der NATO vollzogen und spricht angesichts von Migranten und schutzsuchenden Menschen vor ihrer Haustür von einem »hybriden Krieg«. Weißrußland, das die Menschen passieren läßt, wird für einen »Akt der Aggression« verantwortlich gemacht. Angebote Rußlands, zu vermitteln, werden diffamiert. Die Errichtung von Zäunen mit NATO-Stacheldraht und Mauern werden als notwendig bezeichnet.
Die Mitverantwortung von EU und NATO an der Perspektivlosigkeit in den Herkunftsländern der Flüchtlinge wird beharrlich geleugnet. Stattdessen werden die entsprechenden Staaten und private Flugunternehmen unter Druck gesetzt, um EU- und NATO-Interessen umzusetzen. Andernfalls drohen politische und wirtschaftliche Strafsanktionen.
Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek – Mit zweierlei Maß