Jemen: Der vergessene Krieg – und größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit
Am Vorabend seines heutigen siebten Jahrestags hat sich der Jemen-Krieg, von vielen auch der „vergessene Krieg“ genannt, kurz ins Bewusstsein des Westens zurückgemeldet. Nach einer Luftattacke der Huthi-Rebellen im Rahmen ihrer Militäraktion „Blockadebrecher“ auf ein Öllager in Saudi-Arabien, zuckte sogleich die Ölbörse. Auch mögliche Auswirkungen auf das Formel 1 Rennen am Sonntag fanden Erörterung. Dass der seit 26. März 2015 tobende Krieg einer Militärkoalition unter Führung Saudi-Arabiens, und das seitens des Scheichtums in Riad verhängte alles umfassende Embargo über den Jemen diesen in das Land der gegenwärtig größten humanitären Katastrophe der Welt verwandelt hat, war der Berichterstattung hingegen keines weiteren Wortes wert.
In den Medien meist als „Stellvertreterkrieg“ Saudi-Arabiens und der Emirate sowie einer sunnitisch geprägten Allianz der Golfstaaten auf Seiten Abd-Rabbu Mansur Hadi gegen den Iran und die von ihm unterstützten schiitischen Huthi-Rebellen verkürzt, liegen Hintergründe und reale Verhältnisse indes viel komplexer. Weder sind die Akteure im Jemen bloße Marionetten ausländischer Regionalmächte, noch mangelt es diesem Krieg in seinen sieben Jahren an Eigendynamiken, oder lässt er sie sich überhaupt auf die Dichotomie Huthis versus Hadi-Regierung reduzieren (gar noch als Kampf der Huthi-Rebellen gegen die „international anerkannte jemenitische Hadi-Regierung“ verkürzen), noch spielt darin der Iran die ihm zugeschriebene Rolle. Wenngleich Teheran die Huthis unterstützt, sind dessen Beziehungen zu den Huthi-Rebellen weder mit der Enge zu Kräften in anderen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens gleichzusetzen, ist der Iran seinerseits auch nicht im engeren Sinne militärisch in den Krieg verstrickt und hat das „Mullah-Regime“ zudem wenig unmittelbaren Einfluss auf das Geschehen. Dass die Dinge weit komplizierter liegen, zeigt schon allein ein Blick auf die Südbewegung, die um ihre erneute Eigenstaatlichkeit streitet. Die Republik Jemen entstand erst im Mai 1990, aus den beiden zuvor eigenstaatlichen Nord- und Südjemen, genauer: der Jemenitischen Arabischen Republik im Norden und der Volksdemokratischen Republik Jemen im Süden. Die sich 2007 formierte Südbewegung und der Südjemen boykottierten denn auch die Wahl Hadis zum Nachfolger des durch die Protestbewegungen und Wellen des Unmuts im Kontext des „Arabischen Frühlings“ gestürzten Langzeitdiktators Ali Abdallah Saleh (dessen amtierender Stellvertreter Hadi seit 1994 gewesen war) – der seit den 2000er Jahren auch bereits sechs Kriege gegen die Huthi-Bewegung führte und dabei eng mit den USA kooperierte. Jahrzehntelang politisch, gesellschaftlich und von der ökonomischen Entwicklung ausgeschlossen, begehrten die mehrheitlich der schiitisch zaiditischen Glaubensrichtung angehörenden Huthis bereits seit den 1990er Jahren immer stärker gegen die Diktatur Salehs auf. Seit 2007 kam im Jemen zudem die sogenannte Südbewegung gegen die zunehmende Dominanz des Nordens, die Benachteiligungen, Missstände und Entwindung ihres rohstoffreichen Gebiets durch Saleh-Parvenüs (80% des jemenitischen Erdöls liegt im Südjemen) dazu. Saleh ging gegen die Proteste, Streiks und entflammenden Bewegungen mit brutaler Hand vor. Dass die nach Salehs Sturz (der aufgrund einer ihm gewährten und garantierten Immunität im Land verbleiben konnte) föderalere staatliche Strukturierung des Jemens unter Hadi gegen den Widerstand der SüdjemenitInnen den Südjemen nochmals in zwei Regionen teilte, befeuerte deren Unabhängigkeitsbestrebungen nur noch zusätzlich. Aber auch die in der Region Saada ihr angestammtes Ursprungsgebiet habenden Huthis kamen mit der neuen föderalen Strukturierung nochmals zusätzlich unter die Räder. Dem von ihnen als Hauptpunkt angestrengten und geforderten Zugang zum Roten Meer wurde von der Hadi-Regierung kein Jota Rechnung getragen.
Aber selbst diese wenigen Hinweise genügen nicht. Die Lage, Fronten und Verhältnisse im und um den Jemen liegen in Wirklichkeit noch viel komplexer. So haben sich die Huthis zum Sturz der korrupten und ungeliebten Regierung Hadis zunächst mit ihrem einst härtesten Widersacher, Ex-Präsident Saleh, zusammengetan, sind gemeinsam zügig nach Norden vorgestoßen und haben im Herbst 2014 die Hauptstadt Sanaa eingenommen sowie Hadis Abdankung erzwungen. Dieser nahm wenig später seinen Rücktritt zurück, hat sich im Anschluss dann 2015 nach Saudi-Arabien abgesetzt und führt seither aus dem Exil heraus zusammen mit der saudisch geführten Militärkoalition den Krieg um den Jemen mit. Diese sich bereits seit sieben Jahren dahinziehende Militäroffensive wiederum zielt nicht nur, wie medial verkürzt gezeichnet, auf die Huthis, sondern ebenso auf die SüdjemenitInnenen – die zwar auch ihrerseits gegen einen Vormarsch der Huthis nach Süden mit diesen im Kampf stehen, mit ihren Unabhängigkeitsbestrebungen jedoch gleichzeitig auch im konträren Gegensatz zu Hadi und Saudi-Arabien. Dazu gesellen sich auch noch eine Reihe weiterer lokaler Gruppen (wie etwa Tihama-Bewegung oder die Kräfte in al-Mahara), auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, sowie die – vor allem im Zentraljemen – über starken Einfluss verfügenden jemenitischen Muslimbrüder (Islah-Partei), als gleichzeitigem Erzfeind der Emirate und Saudi-Arabiens (wobei die Saudis, im Unterschied zu den Vereinigten Emiraten, um die Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie über ihren Hinterhof Jemen willen, auch mit den Milizen unter Einfluss der Islah-Partei kooperieren) – sowie zahlreiche islamistische Kampfverbände unterschiedlicher Interessen und internationaler Söldner. Im August 2016 etablierten die Huthis, die zu diesem Zeitpunkt bereits einen Großteil des Jemens kontrollierten, dann auch offiziell eine Gegenregierung, die sogenannte „Regierung der nationalen Rettung“. Als Ex-Präsident Saleh 2017 die hochfragile Koalition mit den Huthis schließlich aufkündigte, liquidierten ihn die Huthi-Rebellen kurzerhand. Im Südjemen etablierte sich im selben Jahr als ein institutionalisierter „Südübergangsrat“ als politische Struktur des Südens. In dessen Gemengenlage existieren wiederum gewisse Kongruenzen, aber auch spezifische Konfliktlinien mit den geopolitischen Interessen der Vereinigten Arabischen Emirate, die vorrangig auf den Südjemen (beispielsweise den Hafen von Aden für ihre regionale Seehandelsposition) ausgerichtet sind. Zudem suchen die Vereinigten Arabischen Emirate im Kampf um den Jemen den Konflikt mit dem Iran möglichst nicht zusätzlich zu eskalieren (wenngleich seit jüngstem auch Riad um bessere diplomatische Beziehungen zu Teheran bemüht ist). Katar, eine Kriegshauptmacht der ersten Stunde, schied 2017 aufgrund der Risse in der Allianz aus der Militärkoalition aus. Die Hauptkraft des Kriegs gegen den Jemen – in seinem Bestreben, seine traditionelle Einflusssphäre mit aller Macht wieder in den Griff zu kriegen weidlich unterstützt von den USA, Großbritannien und Frankreich – ist zweifellos das saudische Königshaus, das sein Nachbarland mit seinem angeführten Luftkrieg, den jahrelangen Dauerbombardements und Raketenangriffen sowie verhängtem Embargo regelrecht verheert hat – darunter natürlich auch die lebenswichtige Infrastruktur des Landes, die Flughäfen und Häfen, das Energieversorgungsnetz, die Kraftwerke, Krankenhäuser und Schulen, Wasserversorgung, Verkehrsnetze, …
Weitgehend unter dem Radar der medialen Öffentlichkeit wird dem Jemen mit Unterstützung des Westens das Lied vom Tod gespielt. Nach UN-Angaben wurden im dem mit dem Siegel der „westlichen Wertegemeinschaft“ zertifizierten Langzeitkriegs bereist rund 380.000 JemenitInnen getötet. Insgesamt 13 Millionen JemenitInnen leiden unter Hunger, darunter 5 Millionen unmittelbar vom Hungertod bedrohten jemenitischen Männer, Frauen, Kinder und Alte. 2 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt und etwa 10.000 dem blutigen Waffengang bereits zum Opfer gefallen. Ihre noch lebenden AltersgenossInnen kennen überhaupt nur Krieg. Die Vereinten Nationen nennen die Lage im Jemen denn auch ausdrücklich die „größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit“. Entsprechend sind rund 80% der EinwohnerInnen des kriegsgebeutelten Landes auf humanitäre Hilfe angewiesen. Gleichzeitig kündigte das UN-Welternährungsprogramm allerdings wegen fehlender Finanzierung schon im Herbst eine Kürzung an. Die jüngste „internationale Geberkonferenz“ verlief zwischenzeitlich noch enttäuschender. Trotz noch so eindringlichen Appells von UN-Generalsekretär Guterres, konnte nicht einmal die Hälfte der Mittel für die unabdingbare Nothilfe aufgebracht werden, während parallel die Rüstungsausgaben weltweit in einer neuen Hochrüstungsspirale durch die Decke schießen. Sevim Dagdelen meinte dazu jüngst zu Recht: „Die Kriegstoten der Scheichs zählen … ganz offensichtlich weniger oder nichts im Unterschied zu den Kriegstoten Putins im Zuge der Ukraine-Invasion. Das zeugt von rassistischer Ignoranz und einem offensichtlich rein taktischen Verhältnis zu Menschenrechten“. Vom Westen vergessen und verdrängt, ist der Jemen-Krieg in anderen Weltregionen allerdings fest im kollektiven Gedächtnis der Menschen eingebrannt und die ebenso schmähliche wie heuchlerische Rolle des Westens glasklar bewusst.
Quelle: KOMintern