18. November 2024

Jahrestag des NATO-Kriegs gegen Libyen

Auf den Tag genau vor 11 Jahren startete der mehr als sieben Monate, bis 31. Oktober 2011, dauernde völkerrechtswidrige Angriffskrieg der NATO auf Libyen. Beendet erst mit dem Tod Muammar al-Gaddafis wurde das einst höchstentwickelte Land Afrikas in einen „failed state“ zurückgebombt und versank im Bürgerkrieg. Übrig blieb eine breitflächige Zerstörung des Landes und der Staatlichkeit, Schutt und Asche, zehntausende Tote, Gewalt und Chaos. Einzig die Ölförderung, unabhängig wer gerade am militärischen Drücker sitzt, blieb intakt.

Dem von Frankreich, Großbritannien und den USA angeführten Luft- und Bombenkrieg vorangegangen war eine ebenso dreiste wie großangelegte Lügen- und Propagandakampagne, wild erfundene Gräuelberichte und Fake-News. Die von Russland und China geforderte Entsendung einer Untersuchungskommission wurde von Washington, Paris, London, Brüssel und Berlin ebenso brüsk zurückgewiesen, wie die beiden zur Reise nach Tripolis bereitstehenden Vermittlungsmissionen zur raschen Beendigung aller Kämpfe und friedlichen Regelung aller Streitfragen und Konflikte. Der Initiative Venezuelas unter Hugo Chávez und weiterer Staaten wurde nicht minder harsch eine Absage erteilt, wie dem gleichgearteten Vermittlungsversuch der Afrikanischen Union – obwohl das Vermittlungskonzept der AU, samt Verfassungsreform, von Gaddafi bereits akzeptiert wurde. Aber: nichts da. Die Devise Sarkozys, Camerons, Obamas (und insbesondere Hillary Clintons), Barrosos sowie auch Merkels war eindeutig: kein Dialog, keine politischen Vermittlungsmissionen – Krieg.

Die Gräuelberichte, Gaddafi flöge Flächenbombardements gegen die eigene Bevölkerung, habe (auch kein Register mit rassistischem Unterton zu ziehen auslassend) „schwarzafrikanische Söldner“ zum Kampf und zu Massenvergewaltigungen angeheuert und übe schwerste Kriegsverbrechen aus, erwiesen sich auch laut UN-Ermittlungskommission als schlicht falsch. Die später ausgewerteten E-Mails Hillary Clintons belegen auch, dass man um den Fake-News-Charakter zahlreicher Behauptungen und Berichte wusste, diese aber wider besseres Wissen als Kriegspropagandamittel unterstützte und gewissenlos nutzte. Die tatsächlich belegten Gräuel und späteren Kriegsverbrechen der unterstützten und zu „Freiheitskämpfern“ umgemünzten Rebellen-Milizen und islamistischen Kampfverbände dagegen kehrte man nach Kräften unter den Tisch.

Dabei hatte der ehemalige „Revolutionsführer“ Gaddafi schon über ein Jahrzehnt zuvor (1999) mit Washington seinen Frieden gemacht, die Wirtschaft des Landes für ausländisches Kapital geöffnetund seit 2004 – in enger Zusammenarbeit mit FRONTEX – die schäbige Rolle des Türstehers der „Festung Europa“ im Mittelmeer übernommen. Bereits lange vorbei waren die Zeiten in denen unter seiner Führung Offiziere 1969 zunächst den pro-britischen König Idris I. stürzten, am Folgetag die größte US-Luftwaffenbasis außerhalb der USA schließen ließen und Kurs auf einen „arabischen Sozialismus“ einschlugen. Auch der ehemalige „Revolutionsführer“ bekannt sich zwischenzeitlich zum Prinzip der Privatwirtschaft und warb im großen Stil um westliche Investitionen. Daneben war er ein begehrter Abnehmer im Waffengeschäft der westlichen Rüstungsindustrie.

Entsprechend hofierte der Westen den ehemaligen Feind und „Top-Terroristen“ aus Sirte auch mit Pomp als „neuen Freund“. Selbst der Gaddafis Befehl zugeschriebene Bombenanschlag auf ein Flugzeug über Lockerbie 1988 wurde gütlich beigelegt. Ja, zwischen ihm und dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy wurde gar eine unverbrüchliche Männerfreundschaft zelebriert. Nur vier Jahre bevor er unter dessen tatkräftiger Ägide für immer in die Wüste geschickt wurde, residierte der libysche Herrscher noch medienwirksam in seinem folkloristischen Beduinenzelt im Herzen von Paris am Fuße der Champs-Elysees, die extra für den Staatsgast und dessen extravagant gehaltenen Staatsbesuche geräumt wurde. Kurz drauf erwiderte Sarkozy, dem Gaddafi 50 Millionen Dollar für dessen Präsidentschaftswahlkampf gesponsert haben soll, die Visite noch mit einem in aller Herzlichkeit gehaltenen Gegenbesuch in Tripolis. Ein nicht weniger kumpelhaftes Verhältnis pflegte Gaddafi bizarrerweise auch zu Silvio Berlusconi – wiewohl der koloniale Eroberungskrieg Mussolinis Libyens (der in der Forschung zusammen mit dem Abessinienkrieg als erster faschistischer Vernichtungskrieg gilt) zum kollektiven libyschen Geschichtsbewusstsein gehört, Gaddafi sich lange als „links“ und „antiimperialistisch“ präsentierte und zu alldem auch noch Geschichte studiert hatte.

Als sich Muammar al-Gaddafi allerdings anschickte eine afrikanische Währungsunion auf den Weg zu bringen – die im Frühjahr 2011 mit einer afrikanischen Investitionsbank mit Sitz in Sirte (Libyen), eines afrikanischen Währungsfonds mit Sitz in Kamerun und einer afrikanischen Zentralbank mit Sitz in Nigeria auf dem Weg war konkret Gestalt anzunehmen – war Schluss mit lustig. Das Projekt drohte nicht nur flankierend das seit Anfang der 1970er Jahre bestehende Petrodollar-System, Öl nur gegen Dollar zu handeln, seitens Libyen in Frage zu stellen, sondern insbesondere auch das neokoloniale, geldpolitische CFA-Regime Frankreichs (die besondere Währungszone des Franc CFA; Communauté Financière d‘ Afrique) in seinen ehemaligen Kolonien aus den Angeln zu heben. Gaddafis pan-afrikanische Politik, allem voran das Vorhaben der Schaffung einer afrikanischen Währung, barg demnach die aus Sicht Washingtons und Paris akute Gefahr des Ausbruchs der Länder des ehemaligen französischen Westafrikas sowie einstigen französisch Zentralafrikas aus dem „Françafrique“ genannten Währungs- und Ausplünderungssystem und stellte zugleich den Dollar als unangefochtene Welt-Leitwährung in Frage. Dem nicht genug, schickte sich Tripolis mit seinen Devisenreserven, Gold- und Silberschätzen (die im Krieg dann spurlos verschwanden), sowie gemeinsamen afrikanischen Finanz-Körperschaften an, Afrika aus der Abhängigkeit des IWF und der Weltbank – als weiteren wesentlichen Instrumenten der westlichen neokolonialen Herrschaft – zu lösen.

Daneben ging es wie so oft schlicht und profan ums Öl. Libyen verfügt immerhin über die größten Öl-Reserven Afrikas (noch vor Nigeria) und hatte neben einer in Angriff genommenen Privatisierungswelle auch seine seinerzeit verstaatlichte Ölwirtschaft seit 2004 wieder für ausländische Investoren geöffnet. Darunter mit milliardenschweren Abkommen mit ENI (Benzinmarke Agip, die schon seit 1959 in Libyen engagiert ist), BP, Shell, Total, Exxon, Repsol, RWE, BSAF, Statoil, aber etwa auch der OMV – sprich: den Premium-Konzernen der westlichen Ölbranche.Allerdings blieb da, neben den teils exorbitanten Lizenzgebühren von bis zu 90% aus den Ölförder-Einnahmen, immer auch ein gewisser genereller Unsicherheitsfaktor. Als der Ölpreis 2009 abschmierte, erwog Gaddafi Teilbereiche der internationalen Ölkonzerne in Libyen zu verstaatlichen und nationalisierte in der Tat die im Land operierende kanadische Ölfirma Verenex. Die dadurch zutiefst aufgeschreckte internationale Ölindustrie und ihr politisches Personal in den Hauptstädten des Metropolenkapitalismus packten die sich ihnen 2011 bietende Gelegenheit dann beim Schopf.Quasi zeitgleich mit dem sich abzeichnenden Grenzverlauf des Bürgerkriegs und der ‚Abtrennung‘ der östlichen Ölgebiete von Tripolis, meinte EU-Energiekommissar Günther Oettinger trocken: „Als Gaddafi das libysche Öl kontrollierte, war er der Mann. Nun, da er es nicht mehr länger unter Kontrolle hat, ist er entbehrlich.“ Und um frühzeitig Nägel mit Köpfen zu machen, erklärte der britische Premier David Cameron schon fast drei Wochen vor Kriegsbeginn was aus maßgeblicher westlicher Sicht beschlossene Sache war: „Colonel Gaddafi“ muss „abtreten“ und „das Land verlassen“. Paris, London und Brüssel hatte bereits entschieden. Endlich bot sich die Chance den zuvor über Jahre hofierten „neuen Freund“ des Westens los zu werden. Begleitend verhandelten ausländische Unternehmens- und Staatsvertreter, ganz so als ob Gaddafi gar nicht mehr amtierte, bereits mit den Aufständischen über die zukünftige Aufteilung der libyschen Öl- und Erdgas-Claims. Die U.S. Army sicherte währenddessen den reibungslose Öl-Handel, unabhängig der Frage, welche der unzähligen Milizen gerade die Oberhand über die Förderanlagen hatte.

Dazu gesellte sich der parallele Ausbruch der „Arabischen Revolutionen“ in Tunesien und Ägypten und die seinerzeit noch nicht abzuschätzenden Perspektiven, Dominoeffekte und sich herausbildenden politischen Kräfteverhältnisse. Der Sturz Ben Alis war für den Westen zwar bloß zweitrangig, aber der Fall des Langzeitverbündeten und Stützpfeilers Hosni Mubarak versetzte die Kernstaaten des Metropolenkapitalismus in akute Alarmbereitschaft. Und die Kette an Volksaufständen reichte bis nach Bahrain und in den Jemen sowie nach Marokko und Algerien. Den Aufstand in Bahrein gegen dessen despotischem Herrscherhaus, wesentlich von der unterdrückten schiitischen Bevölkerungsmehrheit (70%) getragen, schlug eine saudische Militäroffensive blutig nieder. Der medialen Weltöffentlichkeit kaum eine Notiz wert, rollten die Panzertruppen und Einheiten Riads im Einzugsbereich des US-Hauptquartiers der Fünften Flotte (der 2011 in Bahrein befindlichen zentralen Basis für die See- und Luftstreitkräfte der USA im Nahen und Mittleren Osten) gegen die demokratische Protestbewegung vor. Gegen den Aufstand im Jemen wiederum fliegt seit der Verjagung des sunnitischen Präsidenten Abd Rabbo Mansour Hadi 2015 eine Militärallianz unter saudischer Führung einen unbarmherzigen Luftkrieg, der das Land in ein Massengrab verwandelt und in eine humanitäre Katastrophe kaum vorstellbaren Ausmaßes geführt hat. Da die Frage der weiteren Verbreitung der Volksaufstände sowie jene, wohin die Dynamiken im nordafrikanisch-arabischen Raum letztlich führen werden, noch offen war, trachtete der Westen, mit der Militärintervention in Libyen, verdeckten Spezialoperationen und Rückendeckung für seine wichtigsten Statthalter zugleich seine strategisch wichtigsten Claims zu verteidigen und Einflusssphären zu sichern. Diesbezüglich war das libysche Regime Gaddafis allerdings ein ebenso viel zu unsicherer Kantonist, wie in Nordafrika, im Mittelmeerraum und Nahen Osten und auf dem Kontinent gleichzeitig doch außenpolitischer Störenfried.

Zwar, darin waren und sind sich alle politischen BeobachterInnen und Nahost-ExpertInnen einig, schwappten die tunesischen und ägyptischen Entwicklungen nicht in vergleichbaren Formen demokratischer Volksaufstände nach Libyen über, aber im Osten des Landes, der föderativen, stark tribalistisch geprägten Cyrenaika, entzündeten sich ebenfalls kräftige Proteste. Im Unterschied zu Tunesien, Ägypten, Bahrein oder dem Jemen blieben diese aber stark lokal begrenzt und gingen unmittelbar in bewaffnete Unruhen unter der Fahne des Königreichs Libyens unter Indris I. über. Bereits am Folgetag der ersten Demonstrationen stürmten „Rebellen“ der ostsyrischen Öl-Region Kasernen und Polizeistationen, um sich zu bewaffnen, und schritten zur Attacke gegen die Sicherheitskräfte des Regimes. Dass hierbei auch alte Stammes- und Clan-Strukturen, sowie islamistische Kräfte eine maßgebliche Rolle spielten, räumten seinerzeit auch die Mainstream-Medien und außenpolitischen Think-Tanks des Westens ein (und ist seither noch viel detaillierter belegt). Um nicht missverstanden zu werden, es gab schon seinerzeit keinen Grund für Sympathie mit dem autoritär-kleptokratischen Gaddafi-Regime Libyens und es wäre dem libyschen Volk alles andere denn zu verübeln gewesen, hätte es den ehemaligen „Revolutionsführer“ in die Wüste gejagt. Nur, der Aufstand, dem es mehr um eine Neuverteilung der Ressourcen unter politischen Reminiszenzen an den islamischen Senussi-Orden und aus der Region stammenden König Idris ging, hatte einen bei weitem anders gestrickten Charakter als die Millionenaufstände in Tunesien oder Ägypten. Das unterstrich (neben ausbleibenden Massenprotesten in Tripolis und dem Westen Libyens) auch die sich relativ schnell herauskristallisierende Zusammensetzung der Führung der Aufständischen nochmals eindrücklicher: ein Konglomerat an ostlibyschen Stammesführen (die nicht mehr bereit waren, die Öleinnahmen „zu teilen“), Monarchisten,Überläufer und Offiziere des Gaddafi-Regimes, aus den USA und Großbritannien eiligst eingeflogene Exillibyer (darunter Ölexperten und neoliberale Universitätsprofessoren),Al-Kaida nahen Islamisten und „Gotteskrieger“ weiterer Couleurs, CIA und MI6 gesteuerten Putschisten und einer Reihe damals zunächst noch nicht einmal den „Five Eyes-“Schlapphüten bekannte „Vertreter der libyschen Volksinteressen“.

Dessen untangiert reagierten die großen alten Kolonialmächte Afrikas, Frankreich und Großbritannien, sofort. Während die USA in den ersten Tagen noch zögerte, ließ es sich Paris nicht nehmen, den selbsternannten „Nationale Übergangsrat“ schon unmittelbar nach dessen Konstituierung am 27. Februar (also keine ganzen 10 Tage nach Ausbruch der ersten Aufstände) als „legitimen Repräsentanten des libyschen Volkes“ anzuerkennen. US-Verteidigungsminister Robert Gates, der einer bewaffneten Militärintervention in Libyen zunächst noch skeptisch gegenüberstand, äußerte hingegen noch Anfang März 2011, „dass das Pentagon keine Bestätigung“ für die zur öffentlichen Legitimation des vom Elysée-Palast vorangepeitschten Coups herhalten müssenden Berichtehabe. Er selbst habe die Schreckensmeldungen aus Libyen „bisher nur Presseberichten entnommen“. Und das, obwohl die CIA eine akkordierte ständige Präsenz in Libyen unterhielt. Im Unterschied zu den Libyen-Falken um Hillary Clinton und Susan Rice hatte Gates auch Bedenken über die Einbindung Al-Kaidas in den „Regime change“. Die Würfel waren zu diesem Zeitpunkt allerdings schon gefallen. US-Außenministerin Clinton erklärte ihrerseits bereits am 27. Februar unmittelbar „jede Art von Unterstützung zu gewähren, die von den USA gewünscht wird, um Muammar al-Gaddafi zu vertreiben“. US-Präsident Obama schlug kurz darauf in dieselbe Kerbe und gab auch seinerseits einen Regimewechsel im Mittelmeeranrainerstaat als erklärtes Ziel aus: Er denke, „dass Gaddafi auf der falschen Seite der Geschichte steht“, so der Friedensnobelpreisträger, weshalb die USA „Kontakt mit der Opposition aufnehmen (werden), um unser [!] Ziel zu erreichen, Gaddafi von der Macht zu entfernen.“ In den späten Nachmittagsstunden des 19. März flogen französische und britische Kampfflugzeuge dann die ersten Luftangriffe auf Libyen – flankiert vom Abschuss hunderter Marschflugkörper der US-Kriegsschiffe und U-Boote auf Tripolis und andere Küstenstädte. Parallel sickerten Heerscharen von US-Spezialkommandos, CIA-Spione, MI6-Sondereinheiten und ihre französischen Pendants des DGSE im Land ein, um Angriffsziele zu markieren, für Spezialoperationen und als unterstützende Spezialkommandos und Militärberater der Aufständischen. Danach flog auch die US-Luftwaffe schwere Angriffe und hoben italienische Kampfjets mit ab. Der mehr als sieben Monate andauernde NATO-Krieg gegen Libyen hatte begonnen.

Der NATO-Bombenterror richtete sich von Anfang an jedoch nicht nur gegen Militäranlagen, die Flugabwehr oder militärische Infrastruktur, sondern ebenso gegen städtische Wohngebiete, Konvois in denen man Gaddafi vermutete, Küstenstädte, Dörfer, die zivile Infrastruktur des Landes, den staatlichen Fernsehsender usw. usf. Rund 50.000 Menschen sind dem Libyenkrieg der NATO seinerzeit zum Opfer gefallen. Hunderttausende, darunter die von Regierungsgegnern zuhauf angegriffenen Gastarbeiter aus den Nachbarländern und insbesondere aus Schwarzafrika, suchten bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn ihr Heil in der Flucht. Besonders hart traf es dabei die Hundertausenden schwarzafrikanischen Arbeiter, nachdem die westlich-katarische Kriegspropaganda die erlogene Behauptung „schwarzer Söldnertruppen“ Gaddafis in die Welt setzte, die zudem angeblich mit Viagra vollgepumpt zu Massenvergewaltigungen eingesetzt durchs Land zogen. Die Gastarbeiter aus dem subsaharischen Teil Afrikas wurden darauf vielfach unisono als vermeintliche „schwarzafrikanische Söldner“ und „Frauenschänder“ gejagt, gefoltert und kaltblütig umgebracht. Die Kriegspropaganda zog wirklich alle Register und bediente sich sämtlicher zur Verfügung stehender rassistische Untertöne. All diese Kriegsverbrechen der unterstützten „Rebellen“ waren dem Westen auch nachweislich von Anbeginn an bekannt, wurden aber billigend in Kauf genommen um Gaddafi zu stürzen. Selbst Al Jazeera, Katars Kriegssender gegen den „Revolutionsführer“, berichtete schon unmittelbar nach Aufstandsbeginn (bereits Wochen vor Kriegsbeginn) von den rassistischen Massakern der pro-westlichen „Freiheitskämpfer“. Und während das Militärbündnis den Rebellentruppen in ihrem Eroberungsfeldzug den Weg nach Tripolis freibombte, berichtete Amnesty International begleitend bereits ausführlich von „Misshandlungen, von Folter und außergerichtlichen Tötungen gefangener Gaddafi-Kämpfer“ durch die Rebellen-Milizen. In einem Brief an Barack Obama bat Gaddafi den Friedensnobelpreisträger in Washington daraufhin um eine Einstellung des NATO-Bombenkriegs und Aufnahme von Verhandlungen, was vom US-Präsidenten aber umgehend abgelehnt wurde. Erst am 31. Oktober, zehn Tage nachdem Muammar al-Gaddafi nach Beschuss seines Konvois durch französische Kampfjets und einer US-Drohne zunächst gestoppt und im Anschluss viehisch liquidiert worden war, beendete die NATO ihren Kolonialkrieg. Der damalige NATO-Generalssekretär Anders Fogh Rasmussen erklärte die siebenmonatige Militärmission daraufhin als „eine der erfolgreichsten in der Geschichte der NATO“.

Das zuvor wohlhabende Libyen, mit dem damals höchsten Pro-Kopf-Einkommen Afrikas, wurde in einen „failed state“ gebombt, in seiner Staatlichkeit zerstört und versank anschließend im Bürgerkrieg unzähliger Milizen, Clans und politischer Kräftekoalitionen und einem bis heute unregierbaren Chaos, mit von divergenten Interessen geleiteten bis antagonistischen regionalen und globalen Unterstützern (darunter auch später hinzukommenden weiteren Akteuren). Hier ist nicht der Ort auf Gaddafis einstiges programmatisches „Grünes Buch“ von 1973, in dessen drei Teilen er zunächst sein gesellschaftliches Konzept niederlegt, und dessen bereits anfängliche Eigentümlichkeiten wie Ungereimtheiten näher einzugehen. Die Verstaatlichung der Ölfelder und gesamten Erdölindustrie sowie die Nationalisierung des Grundes und Bodens und Verteilung auf die armen Bauern legten allerdings die Grundlagen für die weitere Entwicklung des Rentenstaates in dieser Periode. Aus den Öleinnahmen Libyens finanzierte Gaddafi, entsprechend der von ihm vermeintlich grundgelegten „dritten Universaltheorie“, einen ansatzweisen Wohlfahrtsstaat mit kostenlosem Gesundheitswesen für alle, einer allgemeinen Schulpflicht auf Basis eines kostenlosen Schulwesens und gebührenfreier Universitätsbildung, führte Witwen- und Alters-Pensionen ein, sicherte die Versorgung der Bevölkerung mit zugleich stark subventionierten Grundnahrungsmittel, sowie Strom und Gas, stellte zinslose Kredite für den Wohnungsbau sowie die Landwirtschaft bereit und subventionierte Benzin beinahe bis zum Nulltarif. (Seit 1964/65 gab es im Land keinen Schienenverkehr mehr. Erst seit Ende der 1990er Jahre wurde bis zu Kriegsbeginn das Projekt der Errichtung eines landesweiten Eisenbahnnetzes in Angriff genommen.) Die Löhne waren im Vergleich zu sämtlichen anderen afrikanischen Ländern relativ hoch, auch die Mindestlöhne wurden kontinuierlich erhöht, die Mieten waren niedrig und die wichtigsten Preise weitgehend stabil. Parallel war Libyen zugleich eines der ersten Länder Afrikas, das die Malaria ausrottete. Im Unterschied zu den anderen Großstädten des Kontinents, gab es in Tripolis, Bengasi oder anderen Städten Libyens auch keine Slums. Der Maghrebstaat galt als Land mit dem geringsten Wohlstandsgefälle ganz Afrikas. Insofern spielte in Libyen auch die soziale Frage, Armut und Not für die Protest 2011 nur eine untergeordnete Rolle, wenngleich wohl eine gewisse wirtschaftliche Benachteiligung der Bevölkerung im Osten gegenüber den TripolitanerInnen bestand und das Land im Gefolge der Weltwirtschaftskrise 2008ff mit Arbeitslosigkeit von etwa 30% zu kämpfen hatte.Diese lag unter Jugendlich nochmals höher und sorgte unter ihnen zu Recht für zunehmenden Unmut. Gleichwohl entzündete sich in Libyen daraus kein das ganze Land umfassender Massenaufstand, sondern konzentrierte sich der Aufstand schwerpunktmäßig auf Regionen und kleinere Städte im Osten des Landes. Selbst in Bengasi, der zweitgrößten und in der Cyrenaika liegenden Stadt des Landes, in der später immerhin der selbsternannte „Nationale Übergangsrat“ residierte, gab es keine mit den Volksaufständen der „Arabischen Revolutionen“ vergleichbaren Massendemonstrationen oder – Proteste.

Der weitere Fortgang der Entwicklungen und Dinge würde hier zu weit führen. Zunächst ein Jahrzehnt in einen wechselvollen offenen Bürgerkrieg versunken, beanspruchen aktuell zwei Premiers (mit unterschiedlichen Milizen und internationalen Unterstützern) die Führung des Landes. Freilich weitgehend unter dem Radar der Mainstream-Medien. Dabei handelte es sich bei Libyen, um eine in den letzten Tagen Karriere machende Kategorie für die Bewertung von Kriegsgeschehen aufzugreifen, eigentlich gleichsam um ein „Nachbarland“. So ist es von Italien nach Libyen etwa gleich weit wie in die Ukraine, von Süditalien zur libyschen Küste sogar deutlich näher. Nicht viel anders liegen die Dinge etwa auch von Frankreich her betrachtet. Aber, wie Journalisten fast aller Couleurs in erschreckend offen rassistischen Topoi die letzten Tage zu erkennen geben, „Nachbarland“ ist für sie keine eigentlich geographische, sondern eine politisch-ethnische Kategorie, weshalb es „uns“ („natürlich“) verwehrt sei, geschundenen Libyern und Libyerinnen dieselbe Empathie und Solidarität entgegenbringen wie „unsereins“ („blond, blauäugig“ und „wohlhabende MittelschichtsbürgerInnen“) in Europa. Umso unabdingbarer gegen den „Zeitgeist“, nach Goethes Wort genauer „der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“, nicht minder dem NATO-Krieg um Libyen im Gedächtnis und Blick zu behalten.

Quelle: KOMintern

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