Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer
Die Ausweitung der Truppenpräsenz in Ost- und Südosteuropa ist eines der Ergebnisse des jüngsten Gipfeltreffens der NATO, zu dem die Staats- und Regierungschefs des Militärbündnisses am Donnerstag in Brüssel zusammenkamen. Demnach wird zum einen die Zahl der NATO-Battlegroups durch die Stationierung neuer Einheiten in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien verdoppelt; zum anderen werden mehr Kampfjets, Kriegsschiffe und Flugzeugträgerkampfgruppen in die Region geschickt.
Die Maßnahmen werden von Hardlinern schon seit Jahren gefordert und waren bereits vor der Eskalation des Ukraine-Konflikts im Gespräch; konkrete Schritte wurden vor Kriegsbeginn eingeleitet. Die NATO-Truppenstandorte ziehen sich in einem weiten Bogen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Manöver, mit denen die NATO aktuell den Krieg übt, reichen vom Hohen Norden bis zum Mittelmeer.
Truppenpräsenz verdoppelt
Die Staats- und Regierungschefs der NATO haben auf ihrem jüngsten Gipfeltreffen in Brüssel eine deutliche Ausweitung der Truppenpräsenz des westlichen Bündnisses in Ost- und Südosteuropa beschlossen. Zu den vier bereits bestehenden NATO-Battlegroups in Estland, Lettland, Litauen und Polen sollen vier weitere in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien hinzukommen. Damit bilden die NATO-Militärstandorte, wie Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag vor der Presse erklärte, einen langen Bogen, der »von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer« reicht.
Eine weitere Aufstockung der Truppen ist im Gespräch; laut bisher vorliegenden Berichten könnten die NATO-Einheiten in Ost- und Südosteuropa »auf bis zu acht Brigaden ausgedehnt werden«, schreibt die gewöhnlich gut informierte »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Eine Entscheidung darüber wird auf dem NATO-Gipfel Ende Juni in Madrid erwartet.
Schon jetzt wird das westliche Bündnis auch die Zahl der Kampfjets, die in den östlichen Mitgliedstaaten mit der Luftraumüberwachung befaßt sind, erhöhen und in einigen Ländern Patriot-Luftabwehrbatterien aufstellen. Zudem sollen ab sofort mehr Flugzeugträgerkampfgruppen, U-Boote und andere Kriegsschiffe regelmäßig in der Region auftauchen. Der Bogen der Marinepräsenz reicht laut Stoltenberg »vom Hohen Norden bis zum Mittelmeer« und, soweit möglich *, bis ins Schwarze Meer.
Die Beteiligung der Bundeswehr – und der Luxemburger Armee
An der Ausweitung der NATO-Präsenz in Ost- und Südosteuropa beteiligt sich auch die deutsche Bundeswehr. Schon am 7. Februar hatte das Bundesverteidigungsministerium bekanntgegeben, die deutsche Beteiligung an der NATO-Battlegroup in Litauen werde von 550 auf 900 Soldaten aufgestockt. An der Battlegroup unter dem Kommando deutscher Offiziere ist auch die Luxemburger Armee beteiligt, die erst kürzlich eine personelle Aufstockung bekanntgegeben hat.
Vergangene Woche teilte die Bundeswehr außerdem mit, sie werde bis zu 700 Militärs sowie Patriot-Luftabwehrbatterien in die Slowakei entsenden; dort sollten sie die neu in Aufstellung begriffene NATO-Battlegroup unterstützen. Die genaue Truppenzahl sowie den genauen Standort gibt die Bundeswehr »aufgrund der sicherheitspolitischen Lage« nicht bekannt. Die Luftwaffe der Bundeswehr wiederum unterstützt unverändert die Luftraumüberwachung im Baltikum und beteiligt sich darüber hinaus – bereits seit dem vergangenen Jahr – an der Luftraumüberwachung in Rumänien, aktuell auch an der Luftraumüberwachung in Polen. Die Marine wiederum hat unmittelbar nach Rußlands Überfall auf die Ukraine ihre Aktivitäten in der Ostsee verstärkt und konzentriert sich dabei unter anderem auf die Minenabwehr.
Davon abgesehen hat Deutschland eine wichtige Funktion als logistische Drehscheibe für den NATO-Aufmarsch in Richtung Rußland; so ist in Ulm das Logistikkommando Joint Support and Enabling Command (JSEC) ansässig, das auch NATO-Truppenbewegungen auf dem europäischen Kontinent optimiert.
Seit Jahren geplant
Die Ausweitung der NATO-Truppenpräsenz in Ost- und Südosteuropa ist bereits vor dem Ukraine-Krieg und sogar vor der Eskalation der Ukraine-Krise Ende Oktober 2021 geplant worden. Hardliner hatten schon lange darauf gedrungen, in der Region größere Truppen zu stationieren; im Juni 2020 hatte beispielsweise der US-amerikanische Generalleutnant a.D. Ben Hodges, ein ehemaliger Oberkommandierender der USA-Landstreitkräfte in Europa, gefordert, in der Schwarzmeerregion ein Äquivalent zu den NATO-Battlegroups im Baltikum und in Polen aufzustellen.
Ende 2021 wurde bekannt, daß die Vorbereitungen, diese Pläne in die Realität umzusetzen, bereits weit fortgeschritten waren. Als die Umsetzung Mitte Februar 2022 konkret wurde, zeichneten sich Widerstände ab; dies galt unter anderem für die Slowakei, wo bereits der Abschluß eines Truppenabkommens mit den USA auf schweren Protest gestoßen war.
Diese Widerstände sind nun zumindest fürs Erste überwunden – allerdings nicht vollständig und nicht überall. So weisen Beobachter darauf hin, daß Ungarn sich nach wie vor weigert, fremde NATO-Truppen in relevanter Zahl auf Dauer aufzunehmen; die in Ungarn stationierte Battlegroup soll daher beinahe ausschließlich aus ungarischen Soldaten bestehen. In Bulgarien soll der auswärtige Anteil gering bleiben; die Führung über die Battlegroup liegt bei den einheimischen Streitkräften.
Rekordmanöver in der Arktis
Wie weit die gegen Rußland gerichteten NATO-Planungen bereits vor der Eskalation des Ukraine-Konflikts im Herbst 2021 vorangeschritten waren, zeigen exemplarisch Manöver der NATO-Streitkräfte, die aktuell abgehalten werden oder vor wenigen Tagen abgeschlossen wurden; sie wurden jeweils viele Monate lang vorbereitet. So findet beispielsweise im Norden Norwegens zur Zeit die Kriegsübung »Cold Response 22« statt; Ziel ist es dabei, die Kriegführung unter arktischen Bedingungen zu proben. Rund 30.000 Soldaten aus 27 Staaten sind beteiligt. Damit handelt es sich um das größte Manöver in der Arktis seit dem Ende des Kalten Kriegs. Eingebunden sind Einheiten der Land-, Luft- sowie Seestreitkräfte, darunter zwei Flugzeugträgerkampfgruppen um den USA-Flugzeugträger »USS Harry S. Truman« und den britischen Flugzeugträger »HMS Prince of Wales«.
Bereits im April 2021 hatte es in einem Vorabbericht geheißen, die norwegische Region Ofoten, in der »Cold Response 22« schwerpunktmäßig abgehalten wird, sei »im Fall eines größeren globalen Konflikts, der Rußland im Nordatlantik einbezieht, von strategischer Kernbedeutung«: Sie sei »600 Kilometer von der Halbinsel Kola entfernt«, auf der unter anderem die Atom-U-Boote der russischen Nordflotte stationiert sind.
U-Boot-Abwehr
Bereits am 4. März zu Ende gegangen war das Manöver »Dynamic Manta 2022«. Dabei wurden im zentralen Mittelmeer einerseits die Überwasserkriegsführung, andererseits die U-Boot-Abwehr geübt. Beteiligt waren Kriegsschiffe, U-Boote und Flugzeuge aus neun NATO-Staaten. Die Bundeswehr war mit Teilen des Marinefliegergeschwaders 3 »Graf Zeppelin« präsent. »Dynamic Manta« ist eine von zwei regelmäßig abgehaltenen Manöverserien, mit denen die NATO die Abwehr feindlicher U-Boote probt.
Die zweite trägt den Namen »Dynamic Mongoose« und wird abwechselnd vor der Küste Nordnorwegens und bei Island durchgeführt. Findet »Dynamic Mongoose« in einem Seegebiet statt, das U-Boote der russischen Nordflotte durchqueren müssen, wenn sie von der Halbinsel Kola in den Atlantik einfahren wollen, so liegt das Übungsgebiet von »Dynamic Manta« in relativer Nähe zum Bosporus und zu den Dardanellen, durch die russische U-Boote aus dem Schwarzen Meer ins Mittelmeer gelangen können.
* Der Vertrag von Montreux aus dem Jahr 1936 erlegt Schiffen aus Nicht-Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres klare Beschränkungen für die Durchfahrt durch die Dardanellen und den Bosporus auf.
Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek