27. Dezember 2024

Aus dem Elend Kapital schlagen

Angesichts immer neuer und umfangreicherer Waffenlieferungen scheint die NATO den Krieg gegen Russland bis zum letzten Ukrainer führen zu wollen. Eine wortwörtliche Umsetzung dieser vom westlichen Militärbündnis praktizierten und von der Selenski-Regierung exekutierten Strategie würde bei bestimmten Kapitalfraktionen hierzulande auf Unbehagen stoßen. Schließlich werden aus deren Sicht noch Ukrainer als billige Arbeitskräfte und zur Behebung des „Fachkräftemangels“ benötigt.

Ob in der Pflege, der Gastronomie, der Fleischwirtschaft oder der landwirtschaftlichen Saisonbeschäftigung fehlt es aufgrund oftmals mieser Arbeitsbedingungen und niedriger Löhne an variablem Kapital. Ganz in diesem Sinne plädierte Janosch Dahmen, Gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, am 29. März gegenüber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ dafür, geflüchtetem Medizinpersonal aus der Ukraine die Arbeit in Deutschland zu ermöglichen.

Keine 14 Tage später hatten sich die Gesundheitsminister der Länder in einer Videoschalte darauf geeinigt, Berufsqualifikationen von aus der Ukraine geflüchteten Ärzten und Pflegekräften in Deutschland zügig anzuerkennen. Laut dem Beschluss wollen die Länder geflüchteten Ärzten im Rahmen des geltenden Rechts zügig die Berufserlaubnis erteilen. Auch unterbrochene ärztliche Ausbildungen sollen schnellstmöglich fortgesetzt werden können. Hierfür prüfe der Bund notwendige rechtliche Änderungen, hieß es. Für ukrainische Pflegefachkräfte sollen zudem Möglichkeiten für eine Nachqualifizierung und eine rasche Anerkennung als Pflegefachkraft in Deutschland geschaffen werden. Was auf den ersten Blick als ein gut gemeinter Versuch zur Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Maßnahme, das Arbeitskräftereservoir im hiesigen Niedriglohnsektor weiter aufzustocken.

Denn es werden nicht Mediziner aus Kiew oder Odessa sein, die zukünftig in deutschen Krankenhäusern oder Landarztpraxen arbeiten. Dieses Fachpersonal wird für den Front­einsatz benötigt und wird das Land genauso wenig verlassen dürfen wie Männer im kampffähigen Alter. Die Unternehmen der Krankenpflege und vor allem der Altenpflege schielen daher in erster Linie auf diejenigen, die trotz hohem Qualifikationsniveau als besonders billige Hilfskräfte eingesetzt werden können.

Nur ein Beispiel dafür, wie dies in der Praxis funktioniert, ist das in der Altenpflege tätige Unternehmen „Familien Med“. Dieses wirbt unter dem Label „Solidarität für die Ukraine“ mit den salbungsvollen Worten: „Viele ukrainische BürgerInnen brauchen Arbeit. Zu dieser Gruppe gehören auch herzliche AltenpflegerInnen. Sie können helfen, indem sie eine Betreuungskraft aus der Ukraine einstellen.“

Diese Form der „Solidarität mit der Ukraine“ zahlt sich auch finanziell aus. Der Bundespflegeverband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) geht davon aus, dass ukrainische Betreuungskräfte für einen Bruchteil des Lohnes arbeiten werden, den Osteuropäer aus der EU derzeit in Deutschland vergütet bekommen. Betreuerinnen aus Polen und Rumänien, die bislang vorwiegend in der 24-Stunden-Versorgung gearbeitet haben, werden durch Ukrainerinnen vom Markt gedrängt
Patientenschützer warnen vor dieser Anwerbepraxis. „Deutschland läuft Gefahr, aus dem Elend der Ukrainer Kapital schlagen zu wollen“, kommentierte Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz, am 11. April gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Neben diesen moralischen Hemmnissen sieht Brysch auch sprachliche Barrieren. Das für eine Arbeit in der Pflege und Medizin nötige Sprachniveau könne kaum in weniger als einem Jahr erreicht werden. Patientenversorgung brauche aber den sicheren Umgang mit der deutschen Sprache.

Auch der DGB kritisiert diese Anwerbepraxis von Unternehmen, die das Ziel verfolgen, Geflüchtete aus der Ukraine als schnell verfügbare und billige Arbeitskräfte zu erhalten. Der Gewerkschaftsbund argumentiert, dass der Einsatz Geflüchteter in prekären Beschäftigungsverhältnissen nicht dazu dienen darf, die Versäumnisse in der Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre zu kompensieren. Stattdessen müssten sich die Bedingungen für alle Beschäftigten verbessern, unabhängig davon, ob sie bereits in Deutschland leben, zu Arbeitszwecken einwandern oder auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung ins Land kommen. Dies wird aber weder durch Appelle an die Regierung noch durch Bitten an die Unternehmer geschehen, sondern nur – in Anlehnung an das diesjährige Mai-Motto des DGB – durch „geMAInsame“ Organisierung und „geMAInsamen“ Kampf.

Quelle: Unsere Zeit

Wirtschaft & Gewerkschaft