24. November 2024

Deutscher Wissenschaftspatriotismus

Mehr als 3.000 Professoren der Hochschulen des deutschen Kaiserreichs – so ziemlich alle – unterzeichneten am 16. Oktober 1914 eine Erklärung, in der sie den Ersten Weltkrieg als Verteidigungskampf für die deutsche und damit die europäische Kultur deklarierten. Bis dahin waren die deutschen Truppen ins neutrale Belgien eingefallen, hatten viele Bürger des Landes massakriert und Ende August 1914 die Stadt Löwen und deren Universitätsbibliothek angezündet. Weltweit war ab da von „Hunnen“ die Rede.

Im Jahr 2022 dauerte es nicht zwei Monate, bis führende bundesdeutsche Gelehrte ihren patriotischen Frontbeitrag leisteten. Am 2. März stoppte die von Bund und Ländern finanzierte Deutsche Forschungsgemeinschaft (Förderungsetat 2019: 3,3 Milliarden Euro), die Kooperation mit russischen Einrichtungen – von der Polarmeerforschung bis zur Literatursoziologie. Mit diesen Maßnahmen flankiere die DFG „das konsequente Vorgehen der Bundesregierung im Hinblick auf die russische Aggression“. Das war drei Tage nach dem „Zeitenwende“-Auftritt des Kanzlers im Bundestag, in dem er ankündigte, Rüstungsindustrie und Armee mit Geld zu fluten und die Ukraine mit Waffen.

20 05 Arnold - Deutscher Wissenschaftspatriotismus - Antirussische Propaganda, antirussischer Hass, Deutsche Forschungsgemeinschaft - Positionen
Arnold Schölzel

Immerhin erschien am 9. März in der „FAZ“ eine Nachfrage zum Vorgehen der DFG. Unter der Überschrift „Es ist kein Verbrechen, Russe zu sein“ gab „FAZ“-Mitherausgeber Jürgen Kaube die Auffassung der DFG-Präsidentin Katja Becker, einer Medizinerin, wieder, „es gehe um Sanktionen auf institutioneller, nicht auf individueller Ebene. Dass sie sich an schuldlosen Individuen auswirken, wird dabei hingenommen.“ Kaube merkte an, „eine Sanktion, die keine Handlungen sanktioniert, sondern nur eine Zugehörigkeit“ sei „zwiespältig“. Die rassistische Russophobie, die von der DFG-Chefin und allen deutschen Hochschulen, die ihr folgten, bedient wird, erwähnte er nicht.

Am 24. Februar wurde nicht nur in deutschen Redaktionen, sondern auch in akademischen Einrichtungen eine Raserei freigesetzt, die der von 1914 gleicht. Ablesen ließ sich das an zwei Artikeln, die in der „Zeit“ vom 7. April erschienen. Der erste verkündete programmatisch: „Wissenschaft ist eine geopolitische Macht – und muss auch so handeln“. Autorin Anna-Lena Scholz nennt den Abbruch der Forschungsbeziehungen zu Russland zwar historisch, rechtfertigt ihn aber mit dem, „worum Nationen in Zukunft kämpfen müssen“. Sie fordert noch keine deutsche Physik oder Mathematik, sondern meint Rohstoffe, die in den Krisen des Jahrhunderts knapp werden könnten. Was das angeht, hat die „Zeit“-Dame wie alle deutschen Ost-Strategen den Sieg schon in der Tasche, denn Russland sei „intellektuell ausgeblutet“. Pflicht der übriggebliebenen Forscher sei „Dissidenz“ gegenüber Putin.

Dem Titel nach – „Wer Wissenschaftler jetzt abstraft, gefährdet unser aller Zukunft“ – schlägt der zweite Text einen anderen Ton an. Autor Stefan Schmitt denkt kurz daran, dass Menschheitsprobleme nicht ohne Wissenschaft zu lösen sind, hält die auch für „ein Mittel der Zivilisation“, spricht Letztere aber Russland ab. Da ploppen bei ihm „russische Barbarei“ und „Unrechtsstaat“ auf, wo es um Raumfahrt, Quantenphysik oder Philologie gehen könnte. Das Vokabular der westlichen Propagandakompanie schrumpft sich aufs Weltkriegsniveau herunter.

Am Freitag reagierte Moskau und warf neben den parteinahen deutschen Stiftungen auch die DFG aus dem Land. Das deutsche Außenamt nannte das „rücksichtslose Unterdrückung abweichender Meinungen“. Es verschwieg ebenso wie die Bürgerpresse, dass die Bundesrepublik zuerst Wissenschaft beseitigt hatte. Was selbstverständlich nicht barbarisch genannt werden kann. Denn wenn eine deutsche Wissenschaftsfunktionärin deutsche Kultur rettet und zuerst der Russe weg muss, ist das seit fast 110 Jahren richtig.

Quelle: Unsere Zeit

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