27. Dezember 2024

Linke-Vorsitzende zurückgetreten: Erklärung von Susanne Hennig-Wellsow

Wir dokumentieren nachstehend die Erklärung der bisherigen Kovorsitzenden der Partei Die Linke, Susanne Hennig-Wellsow, zu ihrem Rücktritt von dieser Funktion

Ich habe mich in den vergangenen Tagen an den 26. September 2021 erinnert, den Sonntag der letzten Bundestagswahl. Ich stand vor meinem Wahllokal in Erfurt, auf einem Schulhof in meiner unmittelbaren Nachbarschaft. Menschen kamen und gingen, manche grüßten mich freundlich, wünschten mir und uns Glück, hatten der Partei DIE LINKE und/oder mir als Direktkandidatin ihre Stimme gegeben.

Was würden diese Menschen heute auf die Frage antworten, ob ihre Erwartungen erfüllt wurden? Wir konnten auf Bundesebene gerade noch den Fraktionsstatus halten. Das Versprechen, Teil eines Politikwechsels nach vorn zu sein, konnten wir aufgrund eigener Schwäche nicht einlösen. Zu wenige Menschen glaubten uns, dass wir bereit und in der Lage wären, dieses Land aktiv gestaltend zum Besseren zu verändern.

Es braucht in der Opposition eine starke Partei links von SPD und Grünen, die auf Bundesebene die sozialen, ökologischen und friedenspolitischen Leerstellen der Ampel-Regierung mit produktiver Kritik sichtbar macht und progressive Konzepte in die öffentliche Debatte einbringt, die einem sozialistischen Kompass folgen. Dazu sind wir in der Vergangenheit nicht in dem Maße gekommen, der unserem, der meinem Anspruch gerecht wird.

Was also müsste ich den Menschen heute sagen, die ich an besagtem Wahlsonntag im vergangenen Jahr getroffen habe? Wir haben zu wenig von dem geliefert, was wir versprochen haben. Ein wirklicher Neuanfang ist ausgeblieben. Eine Entschuldigung ist fällig, eine Entschuldigung bei unseren Wählerinnen und Wählern, deren Hoffnungen und Erwartungen wir enttäuscht haben.

Ich erinnere mich noch weiter zurück an meine Bewerbungsrede als Parteivorsitzende vor etwas mehr als 14 Monaten. Ich habe damals DIE LINKE als die Partei definiert, welche die von anderen Parteien vergessenen Menschen eine Stimme gibt. Den alleinerziehenden Müttern in den Plattenbausiedlungen, die nicht genug Geld haben, ihren Kindern ein Frühstück zu machen. Den Rentner:innen, die Flaschen sammeln, um über die Runden zu kommen. Den Familien, die Angst vor der Heizkostenabrechnung haben, weil sie diese nicht bezahlen können. Den vielen, deren Sorgen und Wünsche viel zu oft keine Rolle spielen. Und ich habe damals gesagt, dass ich nicht mehr warten will auf Veränderung, weil diese Menschen nicht mehr warten können, auch nicht auf uns.

Was soll ich diesen Menschen heute sagen? Ich fühle mich diesen Menschen gegenüber genauso verantwortlich wie der LINKEN. 15 Jahre, nachdem wir DIE LINKE gegründet haben. 15 Jahre, in denen wir viel erreicht haben, in denen wir um Rente und Mindestlohn gekämpft haben, manches aus der Opposition zum Besseren beeinflussen konnten. 15 Jahre, in denen wir in insgesamt fünf Bundesländern mitregiert haben, in einem sogar die Landesregierung mit einem Ministerpräsidenten anführen. 15 Jahre, in denen wir Schulmittagessen kostenlos gemacht, Kita- und Hortgebühren abschafft haben und noch viel mehr. 15 Jahre, in den wir viel gelernt und erreicht haben, aber noch mehr hätten lernen und erreichen können, wenn wir rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt hätten.

Eine programmatische, strategische und kulturelle Erneuerung der LINKEN ist nötig, wir wissen es seit Jahren. Ich habe das mir Mögliche versucht, dazu beizutragen. Wir sind aber auf diesem Weg bisher nicht so weit gekommen, wie es meiner Ansicht nach nötig wäre. Wir haben Vertrauen enttäuscht, bei Wähler:innen aber auch bei unseren Genoss:innen.

Ich stelle heute mein Amt als Parteivorsitzende der LINKEN mit sofortiger Wirkung zur Verfügung. Ich weiß um die vermeidbaren Fehler, die ich selbst gemacht habe. Ich weiß auch, dass ich es nicht ausreichend vermocht habe, diejenigen zu überzeugen, die mit Erneuerung vor allem die Angst vor dem Verlust des Vertrauten, der Gewissheiten verbinden.

Ich trete aus drei Gründen vom Amt der Parteivorsitzenden zurück:

  1. Meine private Lebenssituation erlaubt es nicht, mit der Kraft und der Zeit für meine Partei da zu sein, wie es in der gegenwärtigen Lage nötig ist. Ich habe einen achtjährigen Sohn, der mich braucht, der ein Recht auf Zeit mit mir hat. Aber auch DIE LINKE braucht in dieser Situation eine Vorsitzende, die mit allem was sie hat für die Partei da ist.
  2. Die vergangenen Monate waren eine der schwierigsten Phasen in der Geschichte unserer Partei. Erneuerung ist umso mehr nötig, und diese Erneuerung braucht neue Gesichter, um glaubwürdig zu sein. Die LINKE hat es verdient, von Menschen geführt zu werden, die unseren Anhänger:innen und Mitgliedern wieder Mut machen.
  3. Der Umgang mit Sexismus in den eigenen Reihen hat eklatante Defizite unserer Partei offen gelegt. Ich entschuldige mich bei den Betroffenen und unterstütze alle Anstrengungen, die jetzt nötig sind, um aus der LINKEN eine Partei zu machen, in der Sexismus keinen Platz hat.

Ich bleibe eine LINKE. Ich bleibe ein politischer Mensch. Ich werde im Bundestag, in meinem Thüringer Wahlkreis und in meinem Landesverband weiter dafür arbeiten, dass sich die Lebenslagen der Menschen praktisch verbessern, die wir vertreten. Ich werde jene unterstützen, die an der Spitze dieser Partei künftig Verantwortung für die Gestaltung des Erneuerungsprozesses übernehmen. Ich bedanke mich bei allen Genoss:innen, die sich täglich für eine starke LINKE engagieren.

Quelle: Die Linke

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