Der Westen und die Hungerkrise
Seit Wochen dringt UNO-Generalsekretär António Guterres darauf, einerseits die russische Blockade ukrainischer Häfen zu beenden, um von dort ukrainisches Getreide exportieren zu können. Andererseits fordert er zumindest Zugeständnisse bei den westlichen Rußland-Sanktionen, um die Ausfuhr von Getreide und Düngemitteln aus Rußland nicht zu beeinträchtigen. Beide Länder zählen bei den genannten Gütern zu den wichtigsten Exporteuren weltweit. Die eskalierende Nahrungsmittelkrise sei nicht lösbar, »ohne die ukrainische Nahrungsmittelproduktion und ebenso die Nahrungs- und Düngemittel, die von Rußland und von Belarus hergestellt werden, in die Weltmärkte zu reintegrieren«, erklärt Guterres. Für Letzteres ist eine Einschränkung der westlichen Sanktionen notwendig, der sich die westlichen Mächte verweigern. Damit tragen sie zu der beginnenden Verschärfung von Hunger und Not bei, die sich in den nächsten Monaten dramatisch zuzuspitzen droht.
Getreideexporte blockiert
Die Gefährdung der globalen Nahrungsmittelversorgung nimmt weiterhin rasant zu – aus zwei Gründen. Zum einen kann die Ukraine, die zu den wichtigsten Getreideexporteuren der Welt zählt, ihr Getreide kaum noch exportieren. Bis zu Kriegsbeginn wickelte sie mehr als 90 Prozent ihres Exports über ihre Schwarzmeerhäfen ab; diese sind nun entweder von Rußland besetzt oder werden von der russischen Marine blockiert. Laut dem Sprecher von Präsident Wladimir Putin, Dmitri Peskow, sind sie stark vermint; eine Aufhebung der Blockade wäre daher eine komplexe Operation.
Hinzu kommt, daß Aussaat und Ernte beeinträchtigt sind. Branchenexperten weisen darauf hin, daß der Weizenanbau vor allem im Osten der Ukraine konzentriert ist und deshalb von den Kampfhandlungen am stärksten getroffen wird. Zumindest fraglich ist, ob ausreichend Treibstoffe, Düngemittel sowie vor allem Arbeiter zur Verfügung stehen, um die Agrarindustrie des Landes in Gang zu halten. Nicht nur die aktuellen Exportausfälle, auch die kaum zu vermeidenden künftigen Einbrüche in der ukrainischen Landwirtschaft wiegen für die globale Nahrungsmittelversorgung recht schwer.
Exporte sanktioniert
Gravierende Folgen hat zum anderen die westliche Sanktionspolitik, die neben Rußland auch Belarus trifft. Beide Länder gehören zu den bedeutendsten Düngemittelexporteuren der Welt; Rußland ist zudem der größte Weizenexporteur. Belarussische Düngemittelexporte sind in den USA und in der EU seit 2021 mit Strafmaßnahmen belegt. Für russische Düngemittel- und Getreideexporte haben Washington und Brüssel zwar offiziell Ausnahmen von den Sanktionen erlassen, um die Nahrungsmittelversorgung nicht zu gefährden. Die Wirkung dieser Ausnahmeregelungen ist allerdings eher beschränkt.
Das liegt nicht nur daran, daß die westlichen Sanktionen gegen die russische Finanzbranche unangetastet bleiben und damit die Bezahlung von Düngemittel- oder Getreidelieferungen behindert wird. Hinzu kommt, daß wegen der Komplexität und der Undurchsichtigkeit der Sanktionsgesetze der gesamte Handel mit Rußland von Ungewißheit überschattet wird.
Das Phänomen ist aus anderen Ländern bekannt, die von westlichen Sanktionen getroffen wurden, beispielsweise aus dem Iran; es führt regelmäßig dazu, daß auch theoretisch legale Lieferungen nicht vorgenommen werden, da die Händler kaum kalkulierbare Risiken zu vermeiden suchen.
»Guter Wille erforderlich«
UNO-Generalsekretär António Guterres ist seit Wochen bemüht, in Verhandlungen mit allen Seiten Verbesserungen in der globalen Versorgung besonders mit Getreide und Düngemitteln zu erreichen. Dazu strebt er einerseits an, die ukrainischen Häfen für Getreidetransporte zu öffnen. Die Türkei, die unverändert gute Beziehungen sowohl zu Rußland als auch zur Ukraine unterhält, hat sich angeboten, bei der Beseitigung der Minen und der Realisierung der Schiffstransporte zu helfen.
Guterres drängt andererseits, der Westen solle gleichzeitig seine Sanktionen zumindest so weit reduzieren, daß russische und belarussische Getreide- und Düngemittellieferungen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch durchgeführt werden können. Am 19. Mai wurde Guterres mit der Äußerung zitiert: »Es gibt keine erfolgreiche Lösung für die Nahrungsmittelkrise, ohne die ukrainische Nahrungsmittelproduktion und ebenso die Nahrungs- und Düngemittel, die von Rußland und von Belarus hergestellt werden, in die Weltmärkte zu reintegrieren.« Allerdings verlange der Versuch, die höchst komplexen Folgen der dazu nötigen Schritte für Wirtschaft, Finanzen und Sicherheit zu steuern, »guten Willen auf allen Seiten«.
Auf Granit gebissen
Zumindest im Westen beißt Guterres dabei bislang auf Granit: Die Bereitschaft, bei den Sanktionen gegen Rußland wenigstens soweit Abstriche zu machen, daß Getreide sowie Düngemittel wieder ungehindert exportiert werden können, ist nicht vorhanden; der Machtkampf gegen Moskau hat für Berlin, für Brüssel und Washington Vorrang vor dem Kampf gegen den weltweiten Hunger.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock nutzte am 18. Mai ein Treffen bei der UNO in New York, um Rußland vorzuwerfen, den Krieg gegen die Ukraine »nicht nur mit Panzern, Raketen und Bomben«, sondern auch »mit einer anderen schrecklichen und leiseren Waffe« zu führen: »Hunger und Entbehrung«. Diese Behauptung wurde von der Hauptnachrichtensendung des staatlichen deutschen Fernsehens ARD verbreitet. Auf die Folgen der westlichen Sanktionen, die »Hunger und Entbehrung« im großen Stil anfachen, ging Baerbock nicht ein.
Mit der Weigerung der westlichen Mächte, Zugeständnisse in puncto Sanktionen zu machen, bleibt aber Guterres‘ Versuch, die Versorgungslage zumindest ein wenig zu verbessern, fast aussichtslos.
Die »Getreidebrücke«
Berlin setzt stattdessen darauf, das ukrainische Getreide per Zug abzutransportieren und es über Häfen an der Nordsee oder auch an der Adria auf den Weltmarkt zu bringen. Die »Getreidebrücke« soll von der Deutschen Bahn in Kooperation mit den Bahnkonzernen Polens, Tschechiens, der Slowakei und Rumäniens realisiert werden. Wie berichtet wird, gelingt es inzwischen bereits, mit immerhin drei Güterzügen pro Tag ukrainische Nahrungsmittel über Polen weiterzutransportieren.
Der Plan hat gegenüber Guterres‘ Vermittlungsversuch den Nachteil, daß er deutlich höhere Kosten verschlingt – der Transport per Bahn ist erheblich teurer als der per Schiff. Zudem kann er nur erheblich geringere Gütermengen bewältigen. Aus Sicht Berlins hat er aber zugleich den Vorteil, daß er die ukrainische Logistik noch enger an diejenige der EU und Deutschlands bindet und damit die wirtschaftliche Integration der Ukraine vorantreibt – mitten im Krieg.
Das ukrainische Schienennetz
Inwieweit das Vorhaben erfolgreich sein kann, hängt auch davon ab, ob das ukrainische Schienennetz intakt genug bleibt, um den Abtransport von Getreide aus allen Regionen des Landes an die Westgrenze zu Polen zu bewerkstelligen. Seit die westlichen Mächte begonnen haben, auch schwere Waffen an die Ukraine zu liefern, greift Rußland, um deren Transport an die Front zu behindern, immer häufiger das Schienennetz an. Dies geht letztlich auch zu Lasten der Transportmöglichkeiten für ukrainisches Getreide.
Das Anheizen des Krieges schadet der Nahrungsmittelversorgung weltweit.
Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek