Fehde zwischen Blutsbrüdern
Miguel Botache Santillana alias „Gentil Duarte“ war der Oberkommandierende der FARC-EP und hatte, zumindest in Großteilen des Landes, die mächtigsten militärischen Strukturen. Bei einem Angriff, sehr wahrscheinlich von den konkurrierenden Guerillabewegungen ELN und FARC-EP, Zweites Marquetalia, durchgeführt, wurde er Anfang Mai in Venezuela im Bundesstaat Zulia getötet. Sein Tod ereignete sich auf ähnliche Weise wie die von anderen Guerillaführern, darunter die Jesús Santrich, El Paisa und Romaña. Die letztgenannten drei gehörten jedoch der FARC-EP, Zweites Marquetalia, an, die unter der Linie von Iván Márquez steht und mittlerweile mit dem ELN alliiert ist. Zwischen der FARC-EP unter Gentil Duarte, nun ist Iván Mordisco der Oberkommandierende, und der FARC-EP unter Iván Márquez herrscht ein erbitterter Kampf um politische Deutungshoheit und vor allem um die Kontrolle von Territorien in Kolumbien.
Der Kampf zwischen den ehemaligen revolutionären Bruderorganisationen wird also so erbittert geführt, dass gegenseitig die Guerilleros und ihre Kommandierenden ermordet werden, anstatt sich einem gemeinsamen Feind zu widmen. Aber zu tief sind die Furchen. Während es vor geraumer Zeit Gespräche zwischen beiden sich als Nachfolgeorganisationen der FARC-EP bezeichnenden Organisationen gab, sind diese in einer Fehde geendet. Wie wir bereits berichteten, gab es erfolgslose Gespräche zum Zusammenführen beider Organisationen, doch zu unterschiedlich waren die Vorstellungen und Erwartungen beiderseits. Iván Márquez wurde von der einen Fraktion als Verräter der revolutionären Organisation angesehen, weil er im Friedensprozess der Verhandlungsführer war. Doch er wollte die Unterordnung der sich dem Friedensprozess entziehenden Gruppen unter Duarte und Mordisco an seine später gegründeten Strukturen des Zweiten Marquetalia, was diese jedoch ablehnten.
Die Fehde, ausgetragen in Kolumbien und im Nachbarland Venezuela, sorgt nun dafür, dass sich die aufständische Bewegung ihrer Führungspersonen entledigt. Der lachende Dritte ist der kolumbianische Staat mitsamt seinen Sicherheitsorganen. Auffallend sind die ähnlichen operativen Vorgehensweisen der Angriffe, über die es vor allem immer Spekulationen und wenig Fakten gibt. Nicht ganz ausgeschlossen ist ebenso eine Beteiligung kolumbianischer Kräfte oder zumindest das Weitertragen von Informationen aus den aufständischen Bewegungen heraus an kolumbianische Sicherheitskräfte. So wurde Gentil Duarte bereits am 4. Mai, nachdem er mit Sprengstoff angegriffen worden war, getötet. Unklar sind die Initiatoren. Es gibt Meldungen von einem Kommando des ELN, Meldungen von einem Angriff des Zweiten Marquetalia, aber auch eine kooperative Aktion.
Nun stehen sich also auf der einen Seite Iván Márquez, Kommandierender des Zweiten Marquetalia, und Iván Mordisco, Kommandierender der Strukturen um die 1.und 7. Front gegenüber, die sich frühzeitig von den Friedensverhandlungen unter Márquez lossagten. Die jüngsten Guerillakommandierenden, die in ähnlichen Umständen wie Gentil Duarte getötet wurden, waren Seuxis Pausias Hernández alias Jesús Santrich, Henry Castellanos Garzón alias Romaña und Hernán Darío Velásquez Saldarriaga alias El Paisa. Alle waren schillernde Kommandierenden in der alten FARC-EP und schließlich nach dem Scheitern des Friedensabkommens Mitglieder des Zweiten Marquetalia. Mit Gentil Duarte stirbt somit der vierte Anführer der sogenannten dissidentischen FARC-Gruppen innerhalb kürzester Zeit. Eine Annäherung der beiden verfeindeten Strukturen ist derzeit nicht zu erwarten, auch nicht aktuell, zum Jahrestag der Gründung der FARC-EP am 27. Mai in Erinnerung an die Operation Marquetalia im Jahr 1964.
Quelle: Widerstand in Kolumbien