Im geopolitischen Windschatten: Kriegsgang gegen die Jesiden
Im Windschatten der türkischen Militäroffensive gegen Kurdistan sind auch über die Jesiden und ihrem irakischen Kerngebiet Şengal (arabisch: Sindschar) – mit dem Terror und geplanten Genozid der Mörderbanden des „Islamischen Staats“ an ihnen vor noch wenigen Jahren stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt –, abermals dunkle Wolken der akuten Bedrohung aufgezogen.
Nach der Niederringung der Kalifat-Krieger durch die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDK) wie ihrer kommunistischen Verbündeten, dieses Mal, nach zuletzt türkischer Offensive, allerdings durch eine abgekartete, gemeinsame Kriegskoalition aus Bagdad, Ankara und Erbil mit Militäroffensive Bagdads.
Die geplante Isolierung und Zerstückelung des Raums
Der Zeitpunkt der irakischen Offensive und eine Reihe weiterer Indizien deuten nur zu deutlich auf eine mit der Türkei und der feudal-konservativen KDP Barzanis der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak koordinierte Operation der irakischen Zentralregierung unter Mustafa al-Kadhimi hin. Darin reiht sich nicht weniger handgreiflich auch die Verhaftung der deutschen Journalistin Marlene Förster und ihres slowenischen Kollegen Matej Kavčič am 20. April in Şengal ein, die sich zu Recherchen zur Lage der JesidInnen in der selbstverwalteten Region befanden und unter dem Vorwurf der „Terrorunterstützung“ festgenommen wurden. Mit der parallelen Militärmission Bagdads zur angelaufenen neuen türkischen Luft- und Bodenoffensive gegen die Medya-Verteidigungsgebiete der kurdischen Freiheitsbewegung und ihre kommunistischen Verbündeten im Nordirak sowie den verstärkten Angriffen der Türkei auf Selbstverwaltungs-Projekt der „Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien“ (Rojava) soll, so die kurdische Nachrichtenagentur ANF, offensichtlich „die Verbindung“ zwischen den Regionen „abgeschnitten werden“ und damit „alle drei Gebiete isoliert und zermürbt werden“.
Politisch Penetration, Mauerbau und die aktuelle Militäroffensive Bagdads
Die immer stärkere Penetration der jesidischen Selbstverwaltung durch Bagdad und die gleichzeitige buchstäbliche Abmauerung der Region gegen Rojava, ist dabei nochmals besonders perfid. So hat das irakische Militär seit März damit begonnen, einen Mauer entlang der Grenze Şengals zu Rojava zu errichten und aufzuziehen. „Der Bau wurde mit der Verlegung von Stacheldraht und der Einrichtung von Kameratürmen vorbereitet. Ziel ist die Errichtung einer 3,75 Meter hohen und 250 Kilometer langen Mauer, welche die Region Şengal isolieren und abhängig machen soll“, wie kritische Medien bereits seit März berichten. Die von Vertreibung und Genoziden gekennzeichnete Geschichte der ethnisch-religiösen Minderheit der Jesiden – deren Schicksal heute wieder weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein scheint – setzt sich mit der gestarteten Militäroperation Bagdads so unter neuen Vorzeichen fort. Mit der nun begonnenen Militäroffensive gegen die jesidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ und YJŞ mit in Marsch gesetzten Panzereinheiten, schwerem Artilleriebeschuss, Kampfhubschraubereinsätzen, ist der Kampf gegen die bedrohteste Minorität der eigenen Bevölkerung in einen umfassenden Angriff auf sie umgeschlagen.
Der unvergessene Völkermord 2014 und das politische Koordinatensystem
Am 3. August 2014 überfielen die Mörderbanden des „Islamischen Staats“ (IS) Şengal bekanntlich mit dem Ziel, die JesidInnen in einem groß angelegten Genozid auszulöschen. Als die Kalifat-Krieger damals in Şengal einrückten, zogen sich die rund 12.000 in der Region stationierten Peschmerga der südkurdischen Regierungspartei KDP ohne Vorwarnung zurück und überließen die jesidische Bevölkerung schutzlos den Islamisten. Wer fliehen konnte, brach ins Gebirge auf. Dort schützte zunächst ein Dutzend Guerillakämpfer der HPG den Zugang zum Gebirge und verhinderte das Eindringen der Djihadisten. Gleichzeitig wurden umgehend weitere HPG-Einheiten der PKK zur Verteidigung der JesidInnen nach Şengal geschickt. Am 6. August kamen den PKK-Einheiten zudem zwei Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava zu Hilfe. Im gemeinsamen Kampf wurde ein Fluchtkorridor eingerichtet und gegen den IS verteidigt, um die zu Zehntausenden in Şengal-Gebirge geflohenen Menschen zu evakuieren. Bereits in den ersten Tagen gelangten über diesen Korridor rund 50.000 JesidInnen nach Rojava in Sicherheit. In heftigen Gefechten mit den Mörderbanden des IS konnte damit ein noch größeres Massaker und die geplante Auslöschung der jesidischen Bevölkerung in Şengal verhindert werden.
Das Massaker an den jesidischen Männern und die massenhafte Verschleppung und Versklavung jesidischer Frauen und Kinder gilt unter Jesiden als der 74. Genozid (Ferman). Etwa 10.000 Menschen wurden vom IS binnen Kürzestem hingemordet, über 400.000 JesidInnen aus ihrer Stammregion und Heimat Şengal vertrieben. Rund 3.000 verschleppte Frauen und Kinder werden bis heute vermisst. Auch die Parlamente von Belgien und Holland etwa, haben den Säuberungsmord und die Verbrechen des Daesh von 2014 als Völkermord anerkannt. Und das ganze Ausmaß an Hingemordeten ist noch gar nicht endgültig bekannt, wie die immer wieder neu gefundenen Massengräber zeigen.In der nordsyrischen Region Afrin unternimmt nach dessen Besatzung derweil das AKP/MHP-Regime seit längerem eine großangelegte bevölkerungspolitische Neuordnung. Begleitend verdrängt die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet in jesidischen Dörfern forciert deren Glaubenseinstellung und breitet über die einst multi-religiöse Region ihr türkisch-islamisches Ideologem aus. Angesichts des Umstands, dass seit den 1980er 99% aller in der Türkei selbst lebenden Jesiden in die Emigration getrieben wurden und sie auch im Irak – in dem sie etwa 1% der Gesamtbevölkerung stellen – einen bis in die jüngste Zeit anhaltenden Leidensweg (man denke nur an den blutigen „Anschlag von Sindschar“ 2007, dem knapp 800 JesidInnen zum Opfer fielen) hinter sich haben, braucht es nicht viel Fantasie sich auszumalen, was die jetzige akkordierte Offensive in der Region für die JesidInnen an Gefahrenpotential beinhaltet.
Das Selbstverwaltungs-Projekt – ein Dorn im Auge Ankaras, Bagdads und Erbils
Dabei leben nicht nur nach wie vor große Teile der mehr als 400.000 vertriebenen JesidInnen Şengals seither als Flüchtlinge, sondern stehen sie und ihre als Antwort auf den Terror aufgebaute Autonomieverwaltung und basisdemokratischen Volksratsstrukturen sowie Sicherheits- und Selbstverteidigungsstrukturen nun erneut unter akuter Bedrohung. Diese rätedemokratische Organisierung und der Aufbau lokaler jesidischer Verteidigungseinheiten waren Ankara, Erbil, aber auch Bagdad seit Beginn an, ein Dorn im Auge.Das Gros der Vertriebenen wollte denn auch nach Şengal zurückkommen und wieder auf ihrem angestammten Land leben. Die Militäroffensive Bagdads gegen die lokalen Sicherheitskräfte, der Truppenaufmarsch und der Feldzug gegen Autonomieverwaltung hat sie indes wieder in den Schauder vor einen neuen Ferman versetzt.
Interessenvertretungen der JesidInnen und zu Eilprotesten auf
Nach der unmittelbaren Rettung einer der ältesten Religionsgemeinschaften durch die ihnen sofort zur Hilfe geeilten PKK und nachfolgenden Niederringung der Mörderbanden der „schwarzen Fahne“ durch die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Streitkräfte und ihrer kommunistischen Verbündeten Guerillaverbände, dieses Mal jedoch durch das skizzierte Dreigespann Ankara-Bagdad-Erbil sowie mehreren Tausend von der Türkei in den Kampf entsandte Djihadisten, die die Blutspur des IS nur allzu gerne selbst fortschreiben wollen. Und so wandelt heute die schäbige Koalition des türkischen Faschismus und zweit größten NATO-Armee, die feudal-konservativen Kollaborateure Erbils, dieirakischen Zentralregierung unter dem Weltenbummler zwischen den Vereinigten Staaten, Deutschland und Großbritannien, Mustafa al-Kadhimi, und die von Ankara entsandten djihadistischen Söldnerbanden – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – in den Fußspuren der IS-Schlächter, während jene, die diese in heldenhaften Kämpfen niedergerungen bzw. ihre Lehren gezogen haben im doppelten geopolitischen Spiel des Westens ins Fadenkreuz genommen werden.
Vor diesem Hintergrund rufen die Interessenvertretungen der Jesiden und Jesidinnen zur Eilprotesten auf und appellieren an die Öffentlichkeit, sich solidarischen mit der jesidischen Gemeinschaft in Şengal zu zeigen und auf die Straße zu gehen. Die europäischen Dachverbünde der kurdischen Vereine und der Frauenbewegung sowie eine Reihe weiterer linker Kräfte rufen ebenfalls dazu auf. Und auch in Österreich wird mehreren Orten unter der Losung „Hände weg von Şengal“ auf die Straße gegangen.
Quelle: KOMintern