Ungestrafte Aggression
Erdoğan will eine Million Flüchtlinge im besetzten Grenzgebiet des Nachbarlandes ansiedeln
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan arbeitet zielstrebig daran, seinen Einfluß im Nachbarland Syrien auszubauen. Rund eine Million Flüchtlinge sollen in dem von der türkischen Armee besetzten Norden in der Region Idlib angesiedelt werden. Erdoğans Truppen fungieren dort als Schutzmacht für islamistische Terrorgruppen.
Das Siedlungsprojekt basiere auf Freiwilligkeit und sei bereits »ziemlich ausgereift«, verkündete Erdoğan anläßlich der Einweihung tausender Blockhäuser im Dschihadistengebiet. Auch in den nordsyrischen Provinzen Asas, Al-Bab, Dscharabulus und Ras Al-Ain sollen Syrer aus der Türkei angesiedelt werden. Über 57.000 Häuser sollen bereits fertig sein, weitere 20.000 seien im Bau. Dazu Schulen, Moscheen und Krankenhäuser für eine »Rückkehr der syrischen Schwestern und Brüder in ihre Heimat in Würde«.
Erdoğan hatte die Gebiete bei seinen völkerrechtswidrigen Invasionen 2016 und 2019 erobern und besetzen lassen. Die Siedlungspläne des NATO-Mitglieds Türkei verstoßen wie die anhaltende Okkupation gegen das Völkerrecht, laut dem Besatzern eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur in den besetzten Gebieten untersagt ist.
Politischen Beobachtern zufolge will Erdoğan genau das: die Demografie in der Region auf Dauer verändern. Zurück in ihre Dörfer und Städte sollen nicht die Hunderttausende vertriebener Kurden, Christen, Jesiden und Aleviten, die dort mit ihren Familien seit Generationen lebten, sondern diejenigen, die sich mit neuen lokalen islamistischen Autoritäten und dem türkischen Schutzpatron arrangieren können und wollen. Laut Erdoğan sind seit 2016 bereits rund 500.000 Menschen in »Schutzzonen« zurückgekehrt, die von der Türkei entlang der Grenze eingerichtet wurden.
Die linker Umtriebe unverdächtige Göttinger Organisation »Gesellschaft für bedrohte Völker« (GfbV) befürchtet eine weitere Islamisierung des syrischen Nordens. Sollte Erdoğan seine großangelegten und illegalen Siedlungspläne dort umsetzen, würden die kurdischen, christlichen, jesidischen und alevitischen Minderheiten aus ihren traditionellen Siedlungsgebieten verdrängt, so die GfbV. »Um seine alten Pläne durchzusetzen, wirbt Erdoğan jetzt wieder um Geld, vor allem in den arabischen Golfstaaten. Insbesondere das autoritär regierte Emirat Katar, das durch Gasgeschäfte stark vom Ukraine-Krieg profitieren wird, hat sich zur Unterstützung bereit erklärt. Damit finanzieren letztlich auch deutsche Haushalte die völkerrechtswidrigen Siedlungspläne der Türkei«, erklärt der GfbV-Nahostexperte Kamal Sido mit Blick auf den vom grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck eingefädelten Flüssiggasdeal mit den reaktionären Scheichs als Ersatz für Erdgas aus Rußland, das die Ampelregierung boykottieren möchte. Die Türkei und Katar gehören zu den wichtigsten Förderern islamistischer Gruppen, darunter der Muslimbruderschaft.
Erdoğan kann sich bei seinen Expansionsplänen der politischen wie diplomatischen Rückendeckung der anderen NATO-Staaten sicher sein. Vor allem die deutsche Bundesregierung steht hinter Ankara. Die Türkei soll aus geostrategischen Gründen um jeden Preis im westlichen Militärpakt gehalten werden. Erdoğan hat mithin freie Hand bei seinen Angriffen gegen die kurdische Bewegung im eigenen Land wie in den Nachbarländern. Im Unterschied zu Rußland muß er wegen seiner aggressiven Außenpolitik inklusive völkerrechtswidriger Überfälle an der Seite gedungener islamistischer Halsabschneidersöldner weder Wirtschaftssanktionen fürchten noch Waffenlieferungen an seine überfallenen Gegner wie die kurdische Arbeiterpartei PKK. Die vorgeblich »wertebasierte« und »menschenrechtsorientierte« deutsche Außenpolitik unter der grünen Ministerin Annalena Baerbock hält bei Verbrechen von NATO-Partnern die Füße still.
Die dauerhafte Etablierung einer türkisch kontrollierten Einflußzone im Norden Syriens durch die Rückführung von einer Million Flüchtlingen soll Erdoğan auch bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im kommenden Jahr Punkte bringen. Im Zuge der Wirtschaftskrise und einer galoppierenden Inflation verschlechtert sich die Stimmung gegenüber Flüchtlingen zunehmend. Immer wieder gibt es Berichte über faschistische Übergriffe bis hin zu Mordanschlägen. Mit Ausnahme der prokurdischen Partei HDP überbieten sich die Parteien der Regierung und der Opposition mit Stimmungsmache gegen die 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge, die als Sündenbock für den von Erdoğan und seiner islamistischen AKP-Regierung zu verantwortenden wirtschaftlichen Niedergang herhalten müssen.
Rüdiger Göbel
Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek