Ein Jahr nach dem Abzug: Bundesregierung lässt Ortskräfte weiterhin im Stich
Vor einem Jahr, am 29. Juni 2021, wurden die letzten Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan ausgeflogen – nicht aber all die Menschen, die zuvor jahrelang mit der Bundeswehr zusammengearbeitet hatten. Bis heute harren Tausende ehemalige Ortskräfte in Afghanistan aus, leben in Angst, verstecken sich vor Folter und Morden der Taliban. Für Tausende Menschen hätte das verhindert werden können, wenn die Verantwortlichen auf die frühen Warnungen und Vorschläge von Menschrechtsorganisationen wie PRO ASYL, MISSION LIFELINE und Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte gehört hätten.
Deshalb kritisieren PRO ASYL, MISSION LIFELINE und Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte die Bundesregierung scharf. Ein Jahr nach Abzug der Bundeswehr haben viele Ortskräfte noch immer keine Aufnahmezusagen. Das Ortskräfteverfahren muss, wie im Koalitionsvertrag versprochen, dringend reformiert werden, da es bisher systematisch ganze Gruppen von Ortskräften sowie zahlreiche Familienangehörige von der Rettung ausschließt, fordern die drei Organisationen.
„Die alte Bundesregierung hat damals versagt, und auch die neue tut bis heute viel zu wenig, um alle Menschen, die in Afghanistan für deutsche Stellen gearbeitet haben, endlich in Sicherheit zu bringen. Dieses Versagen der Regierungen hat schon Menschenleben gekostet“, kritisiert Marcus Grotian vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte.
Bereits im April 2021, vor mehr als einem Jahr, hatte PRO ASYL einen Vorschlag für ein Programm zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte an alle zuständigen Ministerien geschickt: das Auswärtige Amt, das Bundesinnenministerium, das Bundesverteidigungsministerium und an das Bundesentwicklungsministerium. Zum Programm gehörte: Die Bundesregierung bietet den Ortskräften die Aufnahme an; alle gefährdeten Familienmitglieder werden aufgenommen, nicht nur die Kernfamilie; eine Plausibilitätsprüfung anstelle einer Gefährdungsprüfung durch die Sicherheitsdienste; sofortige Ausreise mit Visaerteilung bei der Ankunft; die Ortskräfte-Definition wird erweitert auf afghanische Mitarbeiter*innen von Durchführungsorganisationen der BMZ wie der GIZ, politische Stiftungen und andere Organisationen und Institutionen. Doch nichts geschah.
Neue Ortskräfte-Definition ist nötig
„Leider sind diese Vorschläge zur sofortigen Aufnahme von Ortskräften, die wir vor mehr als einem Jahr an deutsche Ministerien geschickt haben, noch immer aktuell, da die Verantwortlichen sie bis heute nicht aufgenommen haben. Eine Reform der Definition, wer als Ortskraft gilt, und die Ausweitung auch auf Subunternehmer*innen, die beispielsweise bei der deutschen GIZ tätig waren, ist aber dringend notwendig“, fordert Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL.
Auch von den im Koalitionsvertrag angekündigten Vereinfachungen zur Aufnahme von Ortskräften und ihren engsten Familienangehörigen ist noch nichts zu spüren. Denn von der bisherigen Regelung profitieren die wenigsten Ortskräfte. So werden Arbeitnehmer*innen, die vor 2019 keine Gefährdungsanzeige einreichten, grundsätzlich ausgeschlossen. Arbeitnehmer*innen, deren Vertrag vor 2013 endete, Mitarbeiter*innen von Subunternehmen, Ehrenamtliche in Institutionen erhalten keine Aufnahmezusagen.
„Auch Mitglieder des eigenen Hausstandes von Ortskräften erhalten in den seltensten Fällen die Chance, ihr Leben zu retten. Ebenso wenig rund 3000 frühere Mitarbeiter eines GIZ-Polizeiprojekts (PCP), die im Februar 2022 Untätigkeitsklagen gegen die Bundesregierung eingereicht haben. Angesichts der Lebensgefahr, in der die Menschen in Afghanistan schweben, ist die Verschleppungstaktik der Bundesregierung ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die für Deutschland gearbeitet und sich auf die Versprechungen der internationalen Gemeinschaft verlassen haben“, fordert Axel Steier, Sprecher von MISSION LIFELINE.
Chronik des Versagens beginnt früh
Zivilgesellschaftliche Organisationen haben die Bundesregierung immer wieder aufgefordert, das Ortskräfteverfahren endlich den Erfordernissen der Betroffenen anzupassen. Doch die Chronik des Versagens begann schon weit vor dem 29. Juni 2021. Monatelang war bekannt, dass die deutschen und alle anderen westlichen Truppen abziehen wollten. Und seit Jahren war bekannt, dass Menschen, die mit westlichen Truppen, Institutionen, Nichtregierungsorganisationen und anderen westlichen Büros zusammengearbeitet haben, in den Augen der Taliban als Verräter gelten.
Nach dem Vorschlag für ein „Programm zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte“ im April 2021 forderte PRO ASYL am 24. Juni 2021, fünf Tage vor dem endgültigen Abzug der Bundeswehr, erneut Schnelligkeit und unbürokratische Verfahren. Doch statt Ortskräfte und ihre Familien auszufliegen, setzte die Bundeswehr andere Prioritäten, so dass PRO ASYL am Tag nach dem Abzug erklärte: „Es ist mehr als irritierend, dass die Bundeswehr rund 22.000 Liter Bier, Wein und Sekt ausgeflogen hat, aber viele Menschen, die für Deutschland gearbeitet haben, zurückgelassen werden.“
Und am 9. August, als die endgültige Machtübernahme der Taliban nicht mehr zu verhindern schien, forderte PRO ASYL eine Luftbrücke für gefährdete Personen. Doch die Warnungen verhallten ungehört, die Chronik des Versagens wurde fortgeschrieben – bis heute.
Forderungen an die Bundesregierung
Am 31. März 2022 machten zivilgesellschaftliche Organisationen wie das Patenschaftsnetzwerk, MISSION LIFELINE, PRO ASYL und andere den zuständigen Ministerien folgende Vorschläge für eine Reform des Ortskräfteverfahrens, die noch immer nicht aufgegriffen wurden:
• Der Begriff der Ortskraft darf nicht auf unmittelbare arbeitsvertragliche Verhältnisse beschränkt bleiben, sondern muss auf alle entlohnten oder ehrenamtlichen Tätigkeiten für deutsche Institutionen, Organisationen und Unternehmen sowie Subunternehmen, die z. B. in von der GIZ finanzierten Projekten gearbeitet haben, oder Personen, die als Selbstständige für diese Projekte tätig waren, erweitert werden. Das Verfahren muss daher auch endlich Ortskräfte, die vor 2013 entsprechend tätig waren, schützen.
• Ferner darf der Schutz nicht auf die sogenannte Kernfamilie beschränkt bleiben. Vielmehr sind über die Kernfamilie hinaus sämtliche einem Haushalt zuzurechnenden und bedrohten Personen zu berücksichtigen; die Zugehörigkeit kann sich aus Zusammenleben, finanzieller Abhängigkeit, emotionalen Verbindungen usw. ergeben. Unter den genannten Voraussetzungen müssen auch verheiratete Kinder bei Gefährdung berücksichtigt werden. Neben alleinstehenden volljährigen Töchtern sind auch volljährige Söhne zu berücksichtigen, da gerade diese die Gefahr von Racheakten für die Ortkskrafttätigkeit auf sich ziehen.
• Für die vorgenannte Öffnung sowohl in Bezug auf die Vertragsverhältnisse als auch des Familienbegriffs spricht der Beschluss des Rates der Europäischen Union 2022/51 vom 03.02.2022, in welchem es unter anderem um die Evakuierung von gefährdeten Personen, die für EU-Institutionen tätig waren und deren Familienangehörige geht. Von der Evakuierung sind danach auch Mitglieder des Personals ehemaliger Lieferanten von EUPOL Afghanistan und des Sonderbeauftragten und Mitglieder des Personals von Lieferanten der Delegation der Union in Kabul erfasst – also nicht nur unmittelbare Arbeitnehmer*innen der EU-Institutionen, sondern auch Mitarbeiter von Subunternehmern. Ferner ist der Beschluss nicht auf die Aufnahme der Kernfamilie der gefährdeten Personen beschränkt, sondern bezieht Kinder unabhängig von deren Alter ebenso mit ein wie Eltern und unverheiratete Schwestern.
Kontakt
PRO ASYL: Pressestelle Telefon 069 / 24 23 14 30, presse@proasyl.de
Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte: pr@patenschaftsnetzwerk.de
MISSION LIFELINE: Telefon 0175 / 946 4525, axel.steier@mission-lifeline.de
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Quelle: Pro Asyl