Parlament beschließt 75-Punkte-Reformprogramm
Kubas Parlament hat auf seiner dreitägigen Sommersitzung ein neues Maßnahmenpaket zur Belebung der Wirtschaft auf den Weg gebracht. Das 75 Punkte umfassende Programm setzt viele der bereits laufenden Vorhaben fort, an einigen Stellen kommen jedoch auch gänzlich neue Ansätze zum Tragen. Zu den bahnbrechendsten Ankündigungen zählte die baldige Einführung eines Devisenmarkts für die Bevölkerung und Touristen. Darüber hinaus stellte Wirtschatsminister Alejandro Gil der Nationalversammlung neue Daten zur Lage der Wirtschaft im ersten Halbjahr vor. Die wichtigsten Infos der dreitägigen Sitzung, die vom 21. bis 23. Juli tagte, wie immer im Überblick:
Allgemeine Wirtschaftsperformance
- Wie Wirtschaftsminister Alejandro Gil erklärte, wuchs Kubas Bruttoinlandsprodukt nach der schwersten Rezession seit den 1990er Jahren im ersten Quartal 2022 um 10,9 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres. Dies mag zunächst extrem positiv klingen, muss in Anbetracht der vorangegangenen Rezession allerdings eingeordnet werden: Volkswirtschaften neigen nach starken Rezessionen zu hohem Wachstum, dies ist anfangs vor allem ein statistischer Effekt, der die Trendwende signalisiert. Für spürbare Wohlstandsgewinne ist ein kontinuierlicher Anstieg über einen längeren Zeitraum erforderlich. Die Zahl bedeutet daher im aktuellen Kontext nicht mehr und nicht weniger, als dass Kubas Wirtschaft aufgehört hat zu schrumpfen zurück auf Wachstumskurs gekommen ist. Auch Gil mahnte entsprechend zur Vorsicht, indem er erklärte, dass das BIP sich aktuell noch immer 7 Prozent unter dem Stand des ersten Halbjahres 2019 bewegt. „Für das gesamte Jahr 2022 bleibt das Ziel, ein Wachstum von 4 Prozent zu erreichen“, so der Minister.
- Der Aufschwung hat bereits im 2. Halbjahr 2021 eingesetzt, weshalb das vergangene Jahr mit einem leichten Wachstum von 1,3 Prozent schließen konnte. Am stärksten konnten 2021 die Sektoren Gesundheit und soziale Sicherheit (+14,3 %), Bildung (+9,4 %), Transport, Logistik und Kommunikation (+5,9 Prozent) sowie Hotels und Gastronomie (+5,3 %) zulegen. Geschrumpft im Vergleich zu 2020 sind vergangenes Jahr Land- und Forstwirtschaft (-13,3 %), herstellende Industrie (-15,2 %) Handel (-6,7 %) sowie Strom-, Gas- und Wasserversorgung (-5,3 %). „Wenn wir uns die Zusammensetzung ansehen wird ersichtlich, dass wir letztes Jahr eine Zunahme in den sozialen Bereichen im Vergleich zu 2020 erlebt haben, aber kein Wachtstum in der produktiven Sphäre“, machte der Minister deutlich.
- Im ersten Quartal 2022 konnten das Bildungswesen (+81,7 %), Hotels und Gastronomie (+40,1 %) sowie der Bausektor (+30,2 Prozent) gegenüber dem selben Quartal im Vorjahr, als sich das Land im Lockdown befand, deutlich zulegen. Die Warenexporte lagen bei 1,26 Mrd. US-Dollar (+389 Mio. im Vergleich zum Q1/2021). Einen wichtigen Anteil daran hätten die steigenden Nickel- und Zuckerpreise auf dem Weltmarkt gehabt.
- Der Tourismus ist mit 682.297 Besuchern am Ende des ersten Halbjahres wieder moderat im Aufwind, am ambitionierten Ziel von 2,5 Millionen bis zum Ende des Jahres wird festgehalten. Die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr seien laut Gil entscheidend für das Erreichen des diesjährigen Wachstumsziels. „Wir habene keinen Ersatz dafür“, erklärte der Minister.
- Das Hauptproblem vor dem Kubas Wirtschaft heute steht ist der Mangel an Devisen. Zwar haben sich die Deviseneinnahmen im ersten Quartal 2022 gegenüber dem Vorjahr von 1,65 auf 2,5 Mrd. US-Dollar erhöht, jedoch liegt der Wert noch immer 38 Prozent unter dem von 2019 (siehe Grafik). „Unser Ziel ist es, so schnell wie möglich wieder das Niveau von 2019 zu erreichen“, sagte Gil.
- In der Landwirtschaft beginnen sich nach einem starken Einbruch erste Zeichen einer vorsichtigen Erholung zu manifestieren. So legte die Milchproduktion im 1. Halbjahr um 37 Prozent zu (von 91,6 auf 126 Mio. Liter), beim Gemüse gab es ein Plus von 4 Prozent.
- Die Umsätze im Binnenhandel sind im Vergleich zum Vorjahresquartal um 13,8 Prozent gestiegen. Davon wurden 75,7 Prozent in Pesos und 24,3 Prozent in Devisen umgesetzt. Das dürfe jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, „dass das Angebot weit unter der Nachfrage liegt“, so Gil.
- Die Verkäufe der Staatsunternehmen lagen 8 Prozent über dem Plan (was, wie Gil an anderer Stelle deutlich machte, nicht bedeutet, dass diese effizienter wirtschaften). 437 Betriebe oder 23 Prozent fahren Verluste ein. Der Medianlohn im Staatssektor beträgt derzeit 4150 Pesos (ca. 166 Euro nach offiziellem Wechselkurs). Die Arbeitsproduktivität pro Beschäftigten wird mit 71.944 Pesos angegeben.
- Die letzten Herbst gestartete Reform zur Dezentralisierung der Löhne auf Betriebsebene wurde bislang in 386 Unternehmen mit 453.905 Beschäftigten zur Anwendung gebracht. „Es gibt noch immer eine Reihe von Unternehmen, welche die Beschlüsse nicht richtig implementieren. Und dann gibt es einige mittlere Organe, die die Beschlüsse ohne Autorisierung anders auslegen als intendiert“, kritisierte Gil mit Blick auf die Umsetzung Reform.
- Seit September 2021 wurden auf Kuba mehr als 4000 Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) mit 70.000 Beschäftigten etabliert, etwa die Hälfte davon sind Umwandlungen bestehender Betriebe. Die meisten der KMU (>1500) haben ihren Sitz in der Hauptstadt Havanna. Die wichtigsten Branchen sind Dienstleistungen, Baugewerbe, herstellende Industrie und Lebensmittelindustrie. Die wesentlichen ungelösten Probleme bestünden laut Gil bei der Verbindung von Staats- und Privatsektor sowie den Preisen. Bis zum 20. September müssen alle Selbstständigen („Cuentapropistas“) mit mehr als drei Beschäftigten in die neue Rechtsform übergegangen sein.
- Für das vergangene Jahr hat das Wirtschaftsministerium eine Inflationsrate von 77 Prozent berechnet. In diesem Jahr lag die Inflation bis Ende Juni bei 13,4 Prozent. Wie Gil zu bedenken gab, schließen diese Zahlen jedoch nicht die Verkäufe auf dem Schwarzmarkt ein, weshalb die tatsächliche Inflation für die Konsumenten höher ausfallen wird. „Eine der größten Herausforderungen besteht darin, effektivere Maßnahmen zur Bekäpfung des Preisanstiegs zu finden. Es reicht nicht, nur einen Plan zu beschließen der sagt ‚das Angebot in Pesos muss vergrößert werden‘ – wenn dieser nicht mit konkreten Maßnahmen unterfüttert wird, bleibt es beim Papier“, so Gil.
Quelle: Cuba heute