Zukunftsmangel
Mit dem Beginn des neuen Ausbildungsjahres klagen viele Betriebe über Nachwuchsmangel. Gerade im Handwerk seien viele Lehrstellen noch unbesetzt. Ein Beispiel: Für Thüringen meldete die „Bundesagentur für Arbeit“ Ende Juli rund 6.100 freie Stellen. Vor allem in Produktions- und Fertigungsberufen würden Auszubildende gesucht, zum Beispiel in den Bereichen Metall, Energie sowie im Verkauf und im Baugewerbe. Auch in Städten wie Hamburg melden die Handwerkskammern noch viele unbesetzte Stellen.
Also kriegt jede und jeder, der in Zeiten des akuten Fachkräftemangels eine Ausbildung beginnen möchte, auch eine Stelle? Weit gefehlt. Jeder vierte junge Erwachsene unter 35 Jahren mit Hauptschulabschluss oder mittlerer Reife sei ohne Berufsabschluss, sagt der DGB. Im Zuge der Corona-Pandemie habe sich die Lage weiter verschärft. Obwohl sich Betriebe über Fachkräftemangel beschweren, finden viele junge Menschen keinen Ausbildungsplatz. Die angebotenen Ausbildungsplätze sanken von 512.170 im Jahr 2019 auf 450.848 in 2021.
Dazu kommt, dass die Bedingungen für eine Ausbildung schlechter geworden sind. Die Ausbildungsvergütungen ermöglichen kein eigenständiges Leben. Eine Ausbildung fernab vom elterlichen Wohnort ist für viele nicht finanzierbar. Der DGB-Ausbildungsreport 2020 belegt dies anhand von Zahlen, die noch vor den massiven Preissteigerungen des letzten und des aktuellen Jahres erhoben wurden. Demnach wohnen 72 Prozent der Auszubildenden noch zu Hause. Dabei möchten zwei Drittel der Befragten eine eigene Wohnung, können sich diese aber nicht leisten. Dazu kommt, dass gerade in ländlichen Gebieten Mobilität zum Problem wird. 35 Prozent der befragten Auszubildenden geben an, ihren Betrieb mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schlecht erreichen zu können.
Es ist also kein Wunder, wenn bestimmte Branchen und Berufe keinen Nachwuchs finden. Die in Tarifverträgen vereinbarten Ausbildungsvergütungen weisen seit jeher je nach Branche und Region große Unterschiede auf. Das WSI-Tarifarchiv der Hans-Böckler-Stiftung gibt an, dass die Spannbreite in den 20 untersuchten Branchen von 585 Euro pro Monat, die Auszubildende im thüringischen Friseurhandwerk (1. Ausbildungsjahr) erhalten, bis zu 1.580 Euro im westdeutschen Bauhauptgewerbe (4. Ausbildungsjahr) reicht.
In Branchen ohne Tarifverträge hätten Auszubildende lediglich Anspruch auf die gesetzliche Mindestausbildungsvergütung von 585 Euro im ersten Ausbildungsjahr. Die Unterschiede bei den tarifvertraglichen Ausbildungsvergütungen seien enorm. So zahle das Versicherungsgewerbe bundeseinheitlich 1.070 Euro, der Öffentliche Dienst 1.068 Euro (Bund und Gemeinden) beziehungsweise 1.037 Euro (Länder, ohne Hessen), die Metall- und Elektroindustrie 1.037 Euro in Baden-Württemberg beziehungsweise 1.007 Euro in Sachsen und die Deutsche Bahn AG bundeseinheitlich 1.020 Euro.
Aber auch die tariflich geregelten Ausbildungsvergütungen reichen nicht zum Leben. Eine Mindestausbildungsvergütung von 1.200 Euro, wie sie die SDAJ noch im vergangenen Jahr forderte, könnte nur ein erster Schritt sein, der an die jüngsten Preissteigerungen angepasst werden müsste.
Quelle: Unsere Zeit