Aus dem Ruder gelaufen?
Den Start für die Skandalisierung lieferte bereits im Januar ein selbsternanntes „Bündnis gegen Antisemitismus“ (BgA). Dessen Behauptungen wurden von Politik und Medien umstandslos aufgegriffen und kolportiert. Auch der Zentralrat der Juden ließ sich nicht lange bitten und schickte einen Brandbrief an Kulturstaatsministerin Claudia Roth, welche nicht säumte, ihre Betroffenheit zu bekunden. Weitere prominente Politiker verliehen der gepuschten Hysterie regierungsamtliche Reputation, allen voran Bundespräsident Steinmeier anlässlich seiner von Inkompetenz zeugenden Eröffnungsrede. Bundeskanzler Scholz kündigte an, die Schau boykottieren zu wollen.
In seit langem sattsam bekannter Manier wurde Kunstwerken ein Antisemitismus angedichtet, von dem in Wahrheit nicht wirklich die Rede sein kann. Mit einer andauernden medialen Hetzkampagne wurde in der Folge versucht, ein hochspannendes Kunstereignis von herausragender Bedeutung durch einen konstruierten politischen Skandal ins Abseits zu stellen.
Was steckte hinter dem Rauchvorhang dieses inszenierten Affentheaters, welche Motive lassen sich ausmachen? Eine Antwort drängte sich spätestens beim Besuch des im Osten Kassels gelegenen, vom Kollektiv Taring Padi bespielten stillgelegten Schwimmbads auf.
Es ist der Hass hiesiger Eliten – um nicht zu sagen, ihre Angst davor – gegen eine Kunst, die sich nicht ihren Ansprüchen und Interessen anpasst, sondern stattdessen unverhohlen und teilweise radikal antikapitalistische und antiimperialistische Haltungen zum Ausdruck bringt, eine Kunst, die revolutionäre Volksbewegungen widerspiegelt, an ihnen sogar unmittelbar teilnimmt, indem sie ästhetisch Gestaltetes beisteuert, künstlerisch Geformtes, das – und so etwas erweist sich als durchaus möglich – sich als schlagkräftige Agitprop und dennoch als Kunst erweist.
Schon der Blick auf die dem Schwimmbad vorgelagerten Rasenfläche machte dies deutlich. Dort war eine Heerschar künstlerisch gestalteter Schilder und Figuren aufmarschiert, plakative Objekte, wie sie beispielsweise auf Demonstrationen mitgetragen werden können und wohl auch entsprechend eingesetzt wurden.
Im Gebäude selbst waren eindrucksvolle Arbeiten ausgestellt, teils großformatige Banner, die Ausbeutung und Unterdrückung im heutigen neoliberalen Indonesien anprangern und auch solche, die die 32-jährige Militärdiktatur Suhartos und die damals verübten Verbrechen anklagen (auch das abgebaute Riesenbanner gehört in diesen Kontext). Die Letztgenannten nehmen explizit auf das ungeheuerliche Massaker Bezug, dem hunderttausende wirkliche und vermeintliche Mitglieder der Kommunistischen Partei Indonesiens (sie war seinerzeit die weltweit drittstärkste Kommunistische Partei) auf grausame Weise zum Opfer fielen. Auf den Exponaten sind auch Hinweise darauf zu sehen, dass hinter den Kulissen der US-Imperialismus als Schirm- und heimlicher Oberherr des Suharto-Regimes an diesem Horror mitgewirkt hat.
Es sei an dieser Stelle auch erwähnt, dass die Bonner Republik durchaus mit diesem Mordregime verbandelt war, so etwa in der Person des Ex-SS-Obersturmbannführers und Kriegsverbrechers Rudolf Oebsger-Röder. Er fungierte als enger Berater Suhartos und arbeitete gleichzeitig für den BND und als Korrespondent für die „Süddeutsche Zeitung“.
Selbstverständlich umfasste diese Documenta nicht nur Arbeiten mit explizit politischen Bezügen. An dieser Stelle sei nur die Serie „Out of Egypt“ erwähnt, fünf großformatige Arbeiten der Roma-Künstlerin Malgorzata Mirga-Tas. Mirga-Tas gestaltet in einer eigenwilligen Mischtechnik, bestehend aus Acrylmalerei und collagierten Textilien, Bilder, die durch eine stringent komponierte, gleichermaßen üppige wie bestrickende Farbigkeit faszinieren und die ihre Ikonographie aus der Kultur der Roma beziehen, auch Motive von Diskriminierung, rassistischer Verfolgung und Fluchtbewegungen ihres Volkes aufgreifen. Dabei erzeugt die Künstlerin mit Mitteln der Verfremdung ein distanzierendes Spannungsfeld zu ihrer Motivik und damit eine Ebene ästhetischer Reflektion.
Die documenta fifteen war die erste, die den Fokus auf das Kunstschaffen in den Ländern des globalen Südens richtete. Das ist, wie wir wissen, jener Teil unserer Welt, der durch die kolonialistische beziehungsweise neokoloniale Politik der imperialistischen Staaten des Nordens gnadenlos ausgebeutet, an seiner Entwicklung gehindert und verwüstet wurde und wird, teilweise bis hin zur Unbewohnbarkeit. Um nur wenige Stichworte zu nennen: Umweltzerstörung, Aushalten korrupter Regimes, Förderung von politischem Chaos, von dschihadistischem Terror und bewaffneten Konflikten.
Dass das Kunstschaffen in diesen Ländern zum Teil stark geprägt ist durch die dort herrschenden Verhältnisse, kann nicht verwundern. Unterscheiden sich doch die Bedingungen der Kunstproduktion dort oft erheblich von jenen in den imperialistischen Metropolen. So ist es eher möglich, eine Kunst zu etablieren, die politisch und aufsässig ist und antikoloniale, antiimperialistische Haltungen aufgreift. Die documenta fifteen dürfte die erste große, in der westlichen Welt etablierte und international stark beachtete Kunstschau sein, die diesem Segment der internationalen Kunstszene einen besonderen Stellenwert eingeräumt hat. Dies ist es, was ihr besonderes Profil geprägt hat, auch wenn in der jüngeren Documenta-Historie schon solche Tendenzen wahrnehmbar waren.
Alles in allem muss die konzeptionelle Vorgabe und Ausrichtung für die documenta fifteen als mutiges Unterfangen anerkannt und gelobt werden. Mutig war es zum Beispiel, ein Künstlerkollektiv aus Indonesien, die Gruppe ruangrupa, mit der Kuratierung der Schau zu beauftragen. Ihr Vorgehen brach mit bisher bei derartigen Projekten gängigen Herangehensweisen. So auch mit dem streng hierarchischen Prinzip, das in der spätkapitalistischen westlichen Welt die Kunstproduktion beherrscht, sie strukturiert und inhaltlich kontaminiert, angetrieben und gesteuert von einem ins Perverse gesteigerten kapitalistischen Kunstmarkt.
Diese geist- und kunstfeindlichen Bedingungen der Kunstproduktion im neoliberal verfassten Kapitalismus zeigen auf dem Terrain der Bildenden Kunst eine extreme Ausprägung. Unter anderem hat das zur Konsequenz, dass Kunstschaffende sich spalten in eine schmale Schicht von gehätschelten Stars, von einem exklusiven Kunstmarkt mit Geld überhäuft, und in die große Massse derer, die von den Erlösen aus ihrer künstlerischen Arbeit kaum oder gar nicht überleben können.
Es wundert nicht, dass Funktionärinnen und Funktionäre des Kunstmarktes in Alarmstimmung gerieten, als das Profil der documenta fifteen sich deutlicher abzuzeichnen begann. Die Präsenz von Künstlerinnen und Künstlern auf dieser, wie es heißt, weltweit wichtigsten Kunstschau hat bekanntlich entscheidende Auswirkungen auf ihre Positionierung im Kunstgeschäft, den Marktwert ihrer Arbeiten. So beklagte die Zeitung „Die Welt“: „Bislang galt die Publikation der Liste immer als Freudentag für die Galeristen, die nun gute Geschäfte witterten. Selbst der gut informierte Kunstjournalist wird nur sehr wenige Namen auf der Liste kennen.“
Man fragt sich, ob der Vorsitzende des Documenta-Aufsichtsrates, der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle, und die anderen Entscheider sich anfangs im Klaren darüber waren, dass Teile des politischen Establishments ein solches Projekt als nicht hinnehmbare Provokation, als inakzeptable Dissidenz betrachten werden. Ahnten sie überhaupt, mit welcher Bösartigkeit große Teile der Medien darüber herfallen würden?
Immerhin ist die Documenta-Leitung bis zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen vor dem anhaltenden Druck nicht zurückgewichen, auch nicht unter dem neu eingesetzten Interimsgeschäftsführer Alexander Farenholtz. Ende Juli gab es neue Angriffe, verbunden mit der provokatorischen Forderung nach dem Abbruch der Schau. Der Stein des Anstoßes war in diesem Fall eine 1988 in Algier erschienene Broschüre, die von palästinensischem Widerstand gegen die militärische Besatzung handelt, Schwerpunkt hierbei: die Rolle von Frauen im Kampf und damit verbunden der Einfluss feministischer Bestrebungen.
Farenholtz verwahrte sich gegen diese Angriffe und hielt dagegen: „Ich habe nicht das Gefühl, dass die Stimmung auf der Documenta solche Forderungen widerspiegelt, und das ist nicht die Stimmung, die bei der künstlerischen Leitung und bei mir herrscht.“ Die skandalöse Forderung nach „systematischer Überprüfung aller Werke“ lehnte Farenholtz strikt ab: „Es besteht kein Generalverdacht gegen die Documenta und daher auch keine Veranlassung für eine generelle Überprüfung.“
Mit der Absicht, die letztgenannte Zumutung ins Werk zu setzen, wurde mit Rückendeckung von Kulturstaatsministerin Claudia Roth ein, wie es heißt, „neu geschaffenes Gremium zur Aufarbeitung der Antisemitismusvorfälle bei der Documenta“ ins Spiel gebracht, ein sogenanntes „Expertengremium“, zusammengesetzt aus Juristen, Professoren verschiedener Fachrichtungen, Vertretern verschiedener Universitäten (darunter eine Vertreterin der Universität Hongkong) und der Chefin der Kunstsammlung Dresden.
Ein solches Unterfangen zeugt von Versuchen, diese Documenta – und perspektivisch möglicherweise vergleichbare Kunstevents – einem Zensurregime zu unterwerfen. So versah die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ) ihren diesbezüglichen Bericht mit der Überschrift „Fachleute sollen die Documenta auf Kurs bringen“.
Der sogenannte Documenta-Skandal ist in Wahrheit ein Skandal des politischen und medialen Umgangs mit einem Kulturevent, das sich den Vorgaben eines affirmativen Kulturbetriebes nicht fügen wollte, das auch in Sachen politischer Kritik hartnäckig gegen hierzulande inoffiziell geltende Grenzen der Meinungsfreiheit verstieß. Wir haben hier ein weiteres Symptom für den reaktionären Staatsumbau, den die herrschende Politik im Auftrag des Monopolkapitals seit Jahren vorantreibt.
In Bezug auf die als antisemitisch angegriffene Broschüre weist das Kollektiv „Archive der Frauenkämpfe in Algerien“ die Vorwürfe entschieden zurück: „Wir bedauern, dass diese Bilder auf Unverständnis stoßen und Gegenstand von Fehlinterpretationen geworden sind“, so das Kollektiv, doch sie seien keinesfalls Ausdruck antisemitischer Ressentiments, sondern zielten auf die Kritik der von der israelischen Armee ausgeübten Gewalt. Das Heft – 1988 in Algier erschienen – habe sich offen als Fürsprecher des palästinensischen Volkes positioniert.
Quelle: Unsere Zeit