Unterlassene Hilfeleistung
Man stelle sich vor, binnen weniger Tage wäre Gelsenkirchen menschenleer. Genauso viele Männer, nämlich 261.000, haben Russland seit Beginn der Mobilisierung verlassen. Und der Strom der flüchtenden Männer reißt nicht ab. In die EU wird es kaum einer von ihnen schaffen. Sie hat ihre Grenzen schon geschlossen und Estland sogar einen Mann illegal wieder zurückgeschickt.
Europa wiederholt seinen Fehler vom Februar, als es schon einmal Russ*innen die kalte Schulter zeigte und ihnen zu verstehen gab, sie seien selbst schuld und sollen leiden. Die jetzige Situation ist aber eine andere. Ohne Übertreibung geht es um Leben und Tod. Wann, wenn nicht im Krieg, sollten Männer den Kriegsdienst verweigern? Der Gedanke scheint zumindest bei der sozialdemokratischen Innenministerin Nancy Faeser angekommen zu sein. Sie sei offen für die Aufnahme von Russen, sagte sie vor wenigen Tagen. Geschehen ist seitdem leider nichts.
Dass der grüne Koalitionspartner Russen unter Generalverdacht stellt, macht die Aufnahme noch schwerer. So fordert der Co-Parteivorsitzende Omid Nouripour Sicherheitsüberprüfungen, um Trittbrettfahrer auszuschließen. Die Angst vor der Mobilisierung reiche nicht, um in Deutschland Asyl zu bekommen, findet er. Statt Männer vor dem Tod zu retten, sieht Nouripour in ihnen Spione des Kremls und lobt die Balten für ihre russophobe Politik. Dabei kann jeder Russe, der in Europa ist, nicht für Putin kämpfen.
Deutschland hat seine Willkommenskultur abgelegt. Herkunft ist wichtiger als die Frage nach dem Überleben. Russischen Männern wird gerade der ausgestreckte Mittelfinger gezeigt. Verdächtigung statt Aufnahme: Es ist ein Akt unterlassener Hilfeleistung.