Steinmeiers Leerstellen
Kommentar zur Rede des Bundespräsidenten zur Lage der Nation
In seiner Rede zur Lage der Nation sprach der Bundespräsident am Freitag über dies und das, von den Weltkrisen bis zum Gemeinsinn. Doch interessanter als das, was Frank-Walter Steinmeier sagte, sind die Leerstellen seiner Ansprache.
Da ist der Begriff des Epochenbruchs. Natürlich muss man die russische Aggression gegen die Ukraine als brutal und völkerrechtswidrig verurteilen. Und natürlich wird sie nicht gerechtfertigt durch die geopolitische Entwicklung zuvor. Aber aus dem Nichts kommt sie eben auch nicht. Die Welt ist nicht erst seit Kurzem „auf dem Weg in eine Phase der Konfrontation“, wie Steinmeier sagt. Durch diesen Krieg wird ja nicht unwahr, dass der Westen immer versuchte, Russland klein- und aus dem Geschäft der Großen rauszuhalten. Unter Putins Regentschaft wurde Russland ein selbstbewusster, schwieriger Partner. Dass es ein Gegner wurde, liegt nicht nur an Moskau. Zum neuen Zeitgeist gehört, dass gefälligst alle Abbitte zu leisten haben, die sich vormals für eine Kooperation mit Russland einsetzten. Auch Steinmeier, der jetzt in den Augen der Hardliner etwas gutzumachen hat.
Für ihn folgt daraus, „Chinas Machtanspruch“ mit Argusaugen zu beobachten. Was diese Floskel eigentlich bedeutet: Chinas Erstarken stört die alten Machtansprüche. Die alten Zentren des Imperialismus glaubten die Welt im Griff zu haben. Die Legende vom Ende der Geschichte nach 1989/90 war ein aus Überheblichkeit gespeister Irrtum. Stattdessen begann eine neue, auch gewalttätige Geschichte, in der es um die Neuaufteilung dieser Welt geht. Da werden nicht nur Demokratie und Freiheit verteidigt, sondern zuerst die bisherigen globalen Herrschaftsverhältnisse, die mehr als genug Unheil angerichtet haben. Wer diese Dimension ausblendet, lügt sich selbst und anderen in die Tasche.