BRD verläßt den Wartestand
Formal legte die deutsche Bundesregierung am 14. Juni die erste »Nationale Sicherheitsstrategie« in der Geschichte der Bundesrepublik vor. Das 76-Seiten-Papier enthält aber Bekanntes aus einer mehr als 30-jährigen Entwicklung des auferstandenen deutschen Imperialismus.
So war zum Beispiel in den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« 1992 erstmals ein Satz zu lesen, der vor dem Anschluß der DDR und dem Zerfall der Sowjetunion in einem offiziellen Dokument der Bundesregierung ausgeschlossen war: Zu den deutschen Sicherheitsinteressen gehört demnach die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung«. Was damals wegen der klassisch imperialistischen Drohung allerhand Staub aufwirbelte, wurde jüngst freimütig formuliert. So erwog etwa die damalige Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am 21. Oktober 2021 in einem »Deutschlandfunk«-Interview den Einsatz von Atomwaffen gegen Rußland – eine echte »Zeitenwende«.
Im vergangenen Oktober illustrierte dann die »Bundesakademie für Sicherheitspolitik« (BAKS) mit ihrem »Arbeitspapier 9/22« unter dem Titel »Mindset LV/BV: Das geistige Rüstzeug für die Bundeswehr in der Landes- und Bündnisverteidigung« diesen Stand der Dinge. Die Autoren forderten ein »Umdenken« in den deutschen Streitkräften, weil »für die Armee Kriegstauglichkeit seit der Wiedervereinigung nicht mehr im Mittelpunkt« gestanden habe. Jetzt gehe es aber um: »Kämpfen, töten und sterben« sowie das »Durchstehen außerordentlicher Entbehrungen«.
Bei alldem handelte es sich um die Bekräftigung einer politischen Linie, die 2013 in der Überschrift eines außenpolitischen Strategiepapiers formuliert worden war: »Neue Macht. Neue Verantwortung«. Darin hieß es, die Bundesrepublik gebe sich noch als »eine Gestaltungsmacht im Wartestand«. Dies müsse sich nun ändern: »Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen.« Rußland und China seien keine »Partner«, auch keine »Störer« (wie zum Beispiel Kuba oder Venezuela), aber »Herausforderer«, also Feinde.
Die jetzt verabschiedete »Nationale Sicherheitsstrategie« faßt diese Entwicklung zusammen. Sie trägt den Titel »Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland«. Rußland wird als Hauptfeind charakterisiert und zweimal als »auf absehbare Zeit größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum« bezeichnet. China ist hier gemäß der NATO- und EU-Sprachregelung »Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale«.
Praktische Konsequenzen sind zumeist nur angedeutet – bis auf eine: Die Militärausgaben sollen ab kommendem Jahr »im mehrjährigen Durchschnitt« auf das »2-Prozent-Ziel« der NATO-Staaten erhöht werden. Finanzminister Christian Lindner will das »Sondervermögen Bundeswehr« in Höhe von 100 Milliarden Euro dafür ausgeben. Gegen Ende des Jahrzehnts müsse das aber aus dem normalen Haushalt kommen. Er kündigte zugleich an: »Wünschenswerte Vorhaben werden zurückgestellt werden müssen.«
Im Papier taucht die Formulierung von 1992 über die Freiheit des Welthandels in aktueller Form wieder auf: Die Abhängigkeit bei Rohstoffen und Lieferketten müsse verringert werden, auf »freie Handelswege« sei zu achten.
Neben fast unbegrenzter Hochrüstung steht ein Begriff im Mittelpunkt: »Integrierte Sicherheit« – ein Synonym für Militarisierung von Gesellschaft und Staat. Außenministerin Annalena Baerbock definierte in der Bundestagsdebatte zur »Nationalen Sicherheitsstrategie« am 16. Juni, diese sei »nicht nur ein Arbeitsplan«. Sie spiegele ein neues Verständnis von Sicherheit, »nämlich nicht mehr nur als Sicherheit durch Militär und Diplomatie, wozu es früher Weißbücher vom Verteidigungsministerium und vom Auswärtigen Amt gegeben hat, sondern Sicherheit als integrierte Sicherheit für all unsere Lebensbereiche«.
Es handelt sich demnach um eine Doppelstrategie: Enorme Aufwendungen für Aufrüstung und Krieg verlangen besondere Maßnahmen, um Ruhe an der Heimatfront herzustellen: Militarisierung »für all unsere Lebensbereiche«.
Ob das gelingt, steht auf einem anderen Blatt. Bisher zeigt sich die Abneigung einer Mehrheit der Bevölkerung gegen Waffenlieferungen und den Krieg gegen Rußland nur in Umfragen. Das kann sich ändern.
Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek