18. Dezember 2024

Brot und Rot

Die Künstlerin, Antifaschistin und Kommunistin Ula Richter ist am 5. Juli im Alter von 83 Jahren in Dortmund gestorben. Sie hat ihr Können und ihre Malerei stets auch ihrer Partei und für antifaschistische und Friedensbündnisse zur Verfügung gestellt. Ihre Transparente, Plakate, Wandbilder und Kunstaktionen wie die „Scherbenspur“ zur Pogromnacht haben das politische Dortmund mitgeprägt – ebenso wie zahlreiche Kulturveranstaltungen im Dortmunder „Z“ oder der „Perle vom Borsigplatz“ auf den Pressefesten. Auch UZ hat sich gerne ihrer Bilder bedient. Helmut Manz erklärt, warum.

Was ist sozialistischer Realismus? Die Frage stellt sich in unserer Zeit nicht oft. Nun ist sie angebracht. Denn es geht um die Kunst von Ula Richter. Ihre Kunst hat eine Richtung. Ihr Name ist „sozialistischer Realismus“. Wer darüber nicht reden will, muss zu Ula Richters Werken nicht schweigen. Aber wo es einen roten Faden gibt, da ist es besser, nicht daran vorbei oder darum herum zu reden. „Sozialistischer Realismus“ ist eine Kunstrichtung, die zum einen realistisch oder gegenständlich ist und zum anderen die Welt nicht nur interpretieren, sondern verändern will. Die Kunst soll aktive Beihilfe zum Sozialismus sein. Das ist die gute Absicht, die alle Künstlerinnen und Künstler dieser Richtung eint.

Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht. Diesen Unterschied gilt es gerade auch in der Kunst zu beachten. An ihm scheiden sich die gelungenen von den misslungenen Werken. „Gut gemeint“ ist in diesem Zusammenhang vernichtende Kritik. Die gute Absicht, die bei Ula Richter ohnehin außer Frage steht, will angemessen künstlerisch umgesetzt werden. Nämlich so, dass das Werk für sich stehen und für sich sprechen kann. Das gelungene Werk soll die gute Absicht nicht verwirklichen. Es verwirklicht sie, indem es wirkt. In souveräner Selbstverständlichkeit. Als ob es nicht anders sein könnte.

Dass die gelungene Realisierung keine Selbstverständlichkeit ist, daran erinnern Brechts „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“. Er fasste sie so zusammen: Der Künstler oder die Künstlerin „muss den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten“. Diese Schwierigkeiten bestehen nach Brecht auch „für solche, die in den Ländern der bürgerlichen Freiheit“ die Wahrheit schreiben – oder malen. Wie sind Ula Richter diese fünf Schwierigkeiten beim Malen der Wahrheit begegnet? Hat sie sie gemeistert? Und wenn ja: Wie hat sie das gemacht?

Ihren Mut, unter den Bedingungen der bürgerlichen Freiheit die Wahrheit zu malen, stellte Ula Richter mit einer künstlerischen Grundsatzentscheidung unter Beweis, die sie nie bereut hat. Sie entschied sich für die gegenständliche Malerei, obwohl diese zu ihrer Studienzeit, gelinde gesagt, verpönt war. Die akademische Kunstszene und der Markt setzten auf die Freiheit und die Autonomie des künstlerischen Ausdrucks. „Freiheit“ und „Autonomie“ bedeuteten damals vor allem Freiheit vom Gegenständlichen – Abstraktion. Das Bild sollte nicht mehr Abbild, sondern freie Komposition sein. „Realismus“, galt als überholter „Illusionismus“, gegenständliche Malerei allenfalls als Kunsthandwerk. „Echte“ Kunst hatte „frei“ – nämlich ungegenständlich beziehungsweise gegenstandslos zu sein. Vielleicht hätte Ula Richter eine „echte“ Künstlerin in diesem Sinn werden können. Sie ist es nicht geworden. Sie hat sich freiwillig gegen die abstrakte Freiheit vom Gegenständlichen entschieden. Künstlerische Freiheit bedeutete für sie nie Freiheit vom Gegenstand, sondern Freiheit zum Gegenstand. In diesem Sinn ist ihr Realismus zu begreifen.

Nicht obwohl, sondern weil sich dieser Realismus einer bewussten Absage an die Abstraktion verdankt, ist es aufschlussreich, Ula Richters Bilder einmal abstrakt zu betrachten. Jedes Bild ist nicht nur Abbildung von etwas, sondern auch eine Komposition aus Formen und Farben. Die abstrakte Betrachtung lehrt vor allem eins: Respekt vor der Komponistin. Das Zusammenspiel der Farben und Formen zeugt von souveräner Beherrschung des Materials. Es ist eine Souveränität, die wirken lassen kann. Formen und Farben bringen sich zwanglos zur gewünschten Geltung. Zwischen ihnen entfaltet sich etwas, das Adorno in der Musik „das Triebleben der Klänge“ genannt hat. Manche Bilder laden das Auge regelrecht zur gegenstandslosen Betrachtung ein. Das sind beispielsweise die ins Blau gemalten Wolkenbilder – ohne und mit roter Fahne.

Als abstrakte Kompositionen können sich Ula Richters Bilder sehr wohl sehen lassen. Darauf reduzieren lassen sie sich natürlich nicht. Das souveräne Zusammenspiel von Formen und Farben ist niemals Selbstzweck. Es ist immer Mittel zum Zweck der gegenständlichen Inszenierung. Die abstrakte Bildebene ist eine bewusst gebildete Schicht des optisch Unbewussten, die unbemerkt mitgesehen werden soll. Sie erzeugt eine bestimmte Bildstimmung, die den gegenständlichen Bildsinn unterstreicht. Auf diesen kommt es an. Ohne ihn wäre Ula Richters Mut zum Gegenständlichen kein Mut zur Wahrheit.

Die Abbildung verweist auf das Abgebildete als Kriterium ihrer Wahrheit. Sie soll es möglichst wirklichkeits- oder wahrheitsgetreu abbilden. Das ist das Ziel der realistischen Abbildung. Die realistische Abbildung im Sinne des sozialistischen Realismus ist die realistische Widerspiegelung. Die Widerspiegelung gibt das Gespiegelte wieder und wider. Das fehlende „e“ markiert den unerhörten Unterschied zwischen Abbild und Gegenbild. Die optische Spiegelung ist beides zugleich. Sie gibt das Gespiegelte spiegelverkehrt wieder. Im übertragenen ästhetischen Sinn markiert der Unterschied zwischen Wiedergabe und Widerspiegelung den zwischen Kunsthandwerk und Kunst. Das Kunsthandwerk malt ab. Die Kunst macht sichtbar. Sie zeichnet sich – mit Brecht gesprochen – durch die Klugheit aus, die Wahrheit „zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird“. War Ula Richter über ihr handwerkliches Können hinaus eine Künstlerin?

Es gibt ein kleines Melonenstillleben von Frida Kahlo mit dem ins Fruchtfleisch geschnittenen Titel „VIVA LA VIDA“ – Es lebe das Leben! Ula Richter hat es sehr verehrt – so sehr, dass sie über ihre eigenen Bilder sagte, sie alle könnten diesen Titel tragen. „Es lebe das Leben!“ Das Sichtbarmachen dieses Sinns, die Verbreitung dieser Botschaft, war ihr persönlich-politisches Anliegen und ihr künstlerischer Anspruch. Um ihr Anliegen zu verstehen, muss man wissen: Ula Richter – geboren 1939 und politisiert durch den Vietnamkrieg – war fest davon überzeugt, in einer zutiefst lebensfeindlichen Gesellschaft zu leben. Nämlich in einer kapitalistischen – vom Systemzwang der Profitmaximierung getriebenen – Gesellschaft. Wo der Profit über alles geht, da wird für den Profit auch über alles gegangen – auch über Leichen. Ula Richter bildete ihre Weltanschauung durch die ausgiebige Lektüre marxistischer Schriften aus und weiter. Ihr verdankte sie die von Brecht angesprochene Klugheit, den lebensfeindlichen Charakter des Kapitalismus zu erkennen, „obwohl er allenthalben verhüllt wird“.

Kapitalistische Gesellschaften verhüllen ihren lebensfeindlichen Charakter durch allgegenwärtige, scheinbar überaus lebensbejahende Werbung. Jedes Plakat, jeder Clip, jeder Spot transportiert scheinbar Ula Richters Lebens-Botschaft: „Lebe das Leben!“ – versehen mit dem Hintersinn: „Nimm es dir! Kaufe dies und das und das …!“ Dass der propagierte Kaufrausch den angefachten Lebenshunger nicht stillt, sondern steigert, ist wahr. Es braucht Klugheit, um diese Wahrheit zu erkennen, und auch etwas Mut, um sie auszusprechen. Man gelangt mit beidem zu erhellenden Einsichten wie zum Beispiel dieser Lebensdefinition: „Leben ist das, was du vergeudest, während du dir von dem Geld, das du nicht hast, Dinge kaufst, die du nicht brauchst, um Leuten zu imponieren, die du nicht magst.“ In diesem Zusammenhang ist auch das Adorno-Zitat nicht falsch: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Was bei all dieser Einsicht fehlt, ist die von Brecht geforderte „Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe“. Ula Richter war eine Kämpferin. Ihr Kampf für das Leben trieb sie nach eigener Aussage „auf die Straße oder vor die Staffelei“. Dort stellte sie die leere Leinwand vor die Aufgabe, das Leben, für das sie kämpfte, unverkennbar sichtbar zu machen. Aber wie lässt sich das Bild des richtigen Lebens von seinen kapitalistischen Trugbildern unterscheiden? Ula Richter beantwortete diese Frage mit einem ebenso unscheinbaren wie bemerkenswerten Kunstgriff. Sie setzte der überwältigenden Bilderflut des falschen Lebens die altmeisterliche Anmut ihrer Lebensmittel-Stillleben entgegen. Bedrohlich wirken diese „Waffen“ nicht. Eher harmonisch harmlos. Sind sie „altbacken“? So viel ist sicher: Die abgebildete Hauptwaffe ist Brot.

Das Urteil liegt im Auge der Betrachtenden. Nehmen wir zum Beispiel „Brot und Rot“. Das Bild zwingt niemanden dazu, in ihm eine Waffe zu sehen. Wer will, kann es auf den ersten Blick als altbackenes Kunsthandwerk abtun. Man kann auch nur „Rot sehen“ und es als plumpe Propaganda abfertigen. Könnte es sein, dass sich im Auge des Betrachters noch ein anderes Urteil reflektiert? Ein Urteil, das sich im Bild verbirgt? Handelt es sich dabei vielleicht um das von Brecht erwähnte „Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen“ die zur Waffe gemachte Wahrheit „wirksam wird“? Um das herauszufinden müssen wir nur eines aufbringen: Zeit.

Ula Richters Lebensmittel-Stillleben sind keine Warenwerbung. Sie springen nicht aggressiv ins Auge wie die „Eyecatcher“, die uns unversehens Markenzeichen ins Hirn brennen sollen. Ula Richters Stillleben entfalten ihre Wirkung nur für jene, die sich bewusst auf sie einlassen. Die sich in der Stillleben-Stille von „Brot und Rot“ entfaltende Wirkung besteht in einer allmählich einsetzenden und sich dann dramatisch steigernden Präsenz des präsentierten Gegenstandes. Das unscheinbare, alltägliche und nur allzu bekannte Ding erscheint schließlich so, als ob es ein Kultgegenstand oder zumindest eine außerordentliche Sehenswürdigkeit wäre. Teilt uns die dramatische Brot-Inszenierung die dramatische oder gar traumatische Brot-Erfahrung eines Kriegskindes mit? Das ist möglich. Aber dann stellt sich doch die Frage: Ist diese alte Erfahrung noch zeitgemäß? Ist der zweite Weltkrieg nicht längst vorbei? Tatsache ist: Der Welthunger fordert jedes Jahr etwa ebenso viele Menschenleben wie der zweite Weltkrieg.

Wir leben schon längst in einer Welt, in der niemand mehr hungern müsste. In einer Welt, in der niemand mehr hungern muss, leben wir deshalb noch lange nicht. Warum ist das so? Wir leben in einer kapitalistischen Welt und der Kapitalismus lebt vom Hunger – nicht nur vom eingetrichterten, eingebildeten und eingefleischten, sondern auch vom echten. Der Hunger hält die Hungrigen im Hamsterrad der Ausbeutung. Sie bitten und beten um ihr „täglich Brot“ und auch beim Singen und Essen wird nicht vergessen: „Wes’ Brot ich ess’, des’ Lied ich sing’.“ Wo Hunger herrscht, herrscht Klassenharmonie. Vielleicht ist Ula Richters dramatische Brot-Inszenierung gar nicht so unangemessen, wie es auf den ersten Blick erscheint. Immerhin zeigt sie uns nicht weniger als die Hauptwaffe der herrschenden Klassen.

Ula Richters „Brot und Rot“ ist ein geradezu mustergültiges Werk des sozialistischen Realismus. Die Hauptwaffe der herrschenden Klasse liegt auf dem Tisch. Die Farbe des Tischtuchs ist mehr als nur eine Farbe. Wer ein „rotes Tuch“ sieht, sieht richtig. Es geht um Klassenkampf. Den klassischen Kampf der Arbeiterbewegung: den Kampf ums Brot. Wer dazu ein heroisches Schlachtengemälde erwartet, dürfte von Ula Richters Stillleben enttäuscht sein. Das Bild führt nicht den Kampf vor Augen, sondern seinen Sinn und Zweck: den Frieden danach.

In der Bildwelt von „Brot und Rot“ ist der Kampf ums Brot gewonnen. Es liegt herrenlos auf der zum Tischtuch umfunktionierten roten Fahne. Diese Zweckentfremdung der beiden Kampfmittel ist der Zweck des Klassenkampfs von unten und der Bildsinn des Bildes. Auf dem Tisch ist alles hergerichtet für die sozialistische Tischgesellschaft. Jetzt kann gerecht geteilt werden. Es muss „nur noch“ der Frieden gewonnen werden.

Die Wahrheit des Bildes liegt in der entwaffnenden Widerspiegelung der wiedergegebenen Waffen als gemeinnützige Dinge. Die künstlerische Zweckentfremdung ist gerade in ihrer Einfachheit genial. Brot – das ist die Botschaft – muss keine Hungerwaffe, kein Herrschaftsmittel zur Ausbeutung und Unterdrückung sein. Es kann auch ein Lebensmittel – ein Mittel zum Leben für alle sein. Die vor Augen geführte Zweckentfremdung der Hungerwaffe zum herrenlosen Lebensmittel für alle ist wahr, weil sie eine reale Möglichkeit darstellt. Die gemeinnützige Zweckentfremdung der Hungerwaffe kann nicht nur im Bild, sondern auch in der Realität vorgenommen werden. Als Vorbild für Nachahmungstaten ist „Brot und Rot“ ganz im Sinne Brechts „handhabbar als eine Waffe“ – bis der Kampf ums Brot wirklich gewonnen ist und es keine hungrigen Augen mehr gibt, die das Bild sehen könnten.

Quelle: Unsere Zeit

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